November 2004
Ein Kommentar von Taro Torsay und Stefan Schwanke (IronFlame) zum Tode von Jhon Balance
Das Jahr 2004 verspricht in jeder Hinsicht das schicksalsbehaftetste dieses Jahrzehnts zu werden. Erfahrungen nicht nur persönlicher einschneidender Natur wie auch in unserem Bekanntenkreis ließen uns dies schmerzlich spüren und ahnen und vorerst scheint wohl kein Ende in Sicht… 🙁
Die Nachricht, dass JHONN BALANCE vergangenes Wochenende nach einer schweren Kopfverletzung im Krankenhaus verstorben ist, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben und viele Menschen weltweit haben es verstanden, ihre Ungläubigkeit über diese Tragödie angemessen in Worte zu fassen. Allerdings waren auch bald Stimmen zu hören, die reaktionär tönten: „Selber schuld“, „Das kommt davon“, „War ja abzusehen“, „Tja, so kann’s gehen“, etc. Bei Kommentaren wie diesen könnten wir nur kotzen! Ebenso wie in Amerika der schwarze HipHop vornehmlich von bornierten weißen Mittelklassekids konsumiert wird, ist auch in der Industrialszene in den letzten zehn Jahren immer stärker die Tendenz zu beobachten, dass Hörer bzw. Käufer an den Biografien, Intentionen und dem Background der Musiker nicht nur kaum mehr interessiert sind, sondern eine über Jahrzehnte gewachsene Szene in das Korsett eines neuen engen Weltbilds zwängen wollen. Da wird etwa von Szenegrößen zum Abstoßen von Death In June Platten geraten, weil im Inlet zwei Protagionisten der Szene in pseudo-homoerotischer Pose abgelichtet sind und werden Tiraden über Drogen (und ihnen angeblich verfallene Musiker) verfasst, die weltfremder nicht sein könnten und zudem von Leuten verbreitet werden, die vielleicht erst einmal ihre eigenen Probleme mit der Volksdroge Alkohol thematisieren sollten.
Auf der von uns präsentierten 2002’er COIL Tour haben wir mit vielen Leuten gesprochen und dabei leider auch nicht wenige solcher Leute kennengelernt. Leute in deren Weltbild Schwule, emanzipierte Frauen, Drogenkonsum und Hausbesetzer am liebsten gar nicht vorkämen und die sich nicht zu blöd sind, ihre Abscheu und Ekel vor derlei Gesocks stets und überall zu thematisieren, aber dennoch in die Konzerte von Künstlern wie COIL, Diamanda Galas, Nocturnal Emissions, Novy Svet, etc. rennen. Selbstverständlich nur der Musik wegen. Man kann das ja trennen. Es ist an der Zeit, dass diese Leute einmal ihren Horizont öffnen und sich eingestehen, dass ihr neoreaktionäres Gehabe bei selbsternanten ‚Avantgarde‘ Veranstaltungen so gar nicht möglich wäre und sie ohne die jahrzehntelange Pionierarbeit von arbeitssscheuen, ganz und gar gesellschafts-inkompatiblen, lichtscheuen Querdenkern ihre markigen Stammtischsprüche in ranzigem Kneipenumfeld oder im Rahmen piefiger Vereinsmeierei klopfen müssten und nicht pseudoweltmännisch auf Industrial/Darkwave/Neofolk Veranstaltungen im In- und Ausland, wo der Verstand zu oft gerne ausgeschaltet wird und die Musikdarbietung als Hintergrundgedudel zur eigenen Selbstsdarstellung gerade noch geduldet wird.
Die Protagonisten und Gründerväter des Industrial waren in ihrem Denken und Handeln Lichtjahre von dem entfernt, was heute unter dem selben Siegel firmiert. Die Beschäftigung mit Magie und Nationalsozialismus war eine weitaus obzessivere als heutzutage und verlor sich dennoch bei weitem nicht in solch engen Gassen, wie dies heute zu beobachten ist. Die gesamte Londoner Clicque um Industrial Rec./Fetish/Sterile Rec./Temple Rec./United Dairies/NER//Durtro etc. pp. war ein einziger Haufen von versoffenen Speedjunkies, die mehr schlecht als recht in besetzten Gebäuden hausten. Und das war auch gut so. Platten wie ‚Für Ilse Koch‘ und Tapes wie ‚White Power‘ hätten in einer eichenfurnierten, rotweingeschwängerten Wohnathmosphäre wohl kaum entstehen können. Soviel dazu. Sorry. Not.
Die Mails die uns in den letzten Stunden erreicht haben, zeugten teils (alle anderen wurde wie gewünscht umgehend weitergeleitet) leider von solcher Borniertheit, dass wir uns ‚genötigt‘ sahen, unsere Position mit dem vorangegangenen Absatz, den manche sicher als lächerlich empfinden mögen, klarzustellen. Die Industrialszene BRAUCHT Querdenker und unbequeme Künstler mit ungewöhnlichen Biografien, sonst verendet sie eines Tages in ihrem eigenen Saft.
Zur Person JHONN BALANCE: JHONN hat seit jüngstem Alter unermüdlich sein Wirken in den Dienst der Sache gestellt; und dies schon weit vor seinem Engagement bei den noch heute bekannten Musikformationen. In einer Zeit, in der man noch nicht mal eben einen Mailnewsletter per Mausklick an tausende Empfänger in aller Welt aufgeben konnte, hat er per Briefpost, Plakataktionen, Tape-Samplern in Kleinstauflagen, zwei eigenen Magazinen u.v.m. dazu beigetragen, den Protagonisten einer noch am Anfang stehenden Musikbewegung Gehör zu verschaffen, und hat nicht selten einen hohen Preis dafür gezahlt. An finanziellen Gewinn oder auch nur (sub-)gesellschaftliche Anerkennung wurde dabei im Traum nicht gedacht und anders als heute war dies denn auch zu keinem Zeitpunkt die Triebfeder der Macher von annodazumal. Und doch oder eben gerade deshalb entfesselte der weltweite (Industrial-) Aktionismus ungeahnte Synergien. Für JHONN zählte stets die nächste Aufgabe am Horizont und sein Schaffensdrang war zu jedem Zeitpunkt seines Lebens unstillbar. Für die Vermarktung seiner Kunst konnte er so auch nie die rechte Geduld oder Ausdauer aufbringen. Treue Kunden des Hauses werden so manche Flüche in Richtung Threshold House geschickt haben. Und doch sind sie alle letzten Endes mehr als reichlich belohnt worden mit Schallplatten und Konzerten von unbeschreiblicher Schönheit und gelebter Spiritualität, von brutaler Atonalität und hypnotischem Minimalismus. Kaum eine Band hat in ihrer Existenz soviele Metamorphosen vollzogen wie COIL und den Löwenanteil daran trägt JHONN BALANCE, der als Motor das geniale Talent Peter Christopherson stets inspirierte und zu immer neuen Höchstleistungen antrieb.
Wir haben JHONN stets als begeisterungsfähiges erwachsenes Kind erlebt, das sich nie beklagte, sondern jede Situation und jeden Schicksalsschlag als eine neue Erfahrung begriff. Wer das Glück hatte, JHONN persönlich kennenzulernen, wird gerne bestätigen, dass er, auch als er die 40 bereits überschritten hatte, noch immer eine extrem jugendliche Ausstrahlung hatte. Seine stets wachen, leuchtenden Augen werden uns immer in Erinnerung bleiben. Leider begingen viele Leute den Fehler, in dem offensichtlich völlig verrückten Derwisch auf der Bühne mit dem irren Blick auch die Privatperson JHONN BALANCE zu sehen, doch selbst in einer unzweifelhaft stressigen Tour/Konzertsituation haben wir JHONN stets als (in seinem Rahmen) ausgeglichen und immer Herr SEINER Situation erlebt. JHONN war immer freundlich und ein in seinen Möglichkeiten oftmals außergewöhnlich großzügiger Mensch. So fällt mir spontan folgende Begebenheit ein: zu einem Zeitpunkt als auf der rec.industrial.music-Newsgroup und auf der COIL-Mailingliste das ultralimitierte Vinylalbum ‚Astral Disaster‘ zu immensen Summen gehandelt wurde (Jhonn war Mitglied in beiden Foren und der Preise und Nachfrage sehr wohl gewahr), offerierte er mir diese fröhlich als Geschenk, nachdem ich ihm gestand, dass ich die letzten drei Jahre COIL musikalisch nicht mitverfolgt hatte. Auch wenn er persönlich auf der Suche nach einer bestimmten Musikaufnahme war, revanchierte er sich stets mit einem Vielfachen. Früher oder später.
Unser Kontakt hatte sich merklich abgekühlt und war schließlich ganz erkaltet nach dem (für unsere Seite menschlich zutiefst enttäuschenden und finanziell katastrophalen) Disaster des Throbbing-Gristle-Reunion-Konzerts, an dem COIL nur periphär aber doch beteiligt waren. Da Zeit jedoch oft alle Wunden heilt, waren zukünftige Konzertbesuche bereits in Planung. JHONN’s Freund Ian hätten wir in nicht einmal vier Wochen anlässlich des TG-Konzerts in England erstmals getroffen. Gerne hätten wir, der kleine dunkelhaarige Bär mit Bart und der große Dunkelblonde mit Bart die beiden dort getroffen: den großen Dunkelblonden mit Bart und seinen dunkelhaarigen Bär mit Bart 🙂 Nun, es hat nicht sein sollen…. Wir hoffen sehr, dass auch Ian ein ordentliches Maß an Mitgefühl zuteil wird, wie es Peter derzeit aus aller Welt erfährt! Wir wünschen Jhonn/John/Geff/Geoffrey viel Glück auf seinen weiteren Wegen! Wir sind zutiefst überzeugt, dass er seinen etwaigen Tod längst akzeptiert hatte und ihn in seinen ganz eigenen Lebensentwurf bereits integriert hatte. Ein Leben, dass noch kein Ende gefunden hat. Out of Darkness – cometh Light!,
Taro Torsay, Stefan Schwanke
Zuletzt noch die Bitte, Kondolenzschreiben nicht an folgende Adressen zu richten: john@…, rufus@…, comments@…, sleazy@…, zoskia@… sondern ausschließlich an bookofcondolence@thresholdhouse.com
BILDER: disorder (Auftritt beim WGT 2004)