Anne Clark

Anne Clark Interview November 2006 – Deutsch

Keinen Beitrag leisten zur Konsumgesellschaft

Interview mit Anne Clark

Audio Version – Englischer Text

Im Jahr 1982 erschien „The Sitting Room“, die erste Veröffentlichung von Anne Clark. Die Platte ließ sich so recht nicht in den Popkontext einordnen: düstere, von Verzweiflung geprägte Texte wurden mit abstrakten Klangminiaturen unterlegt. Nur zwei Jahre später gehörte die Britin bereits zur Speerspitze der Independent-Musikszene. Ihre Hits „Sleeper in Metropolis“ und „Our Darkness“ brachten alternative Tanzsäle zum Beben und beeinflussten zahlreiche Musiker der Technoszene nachhaltig, wie das 1997er Remix-Album „Wordprocessing“ eindrucksvoll belegt.
Genervt vom zunehmenden Erwartungsdruck und enttäuscht von der Gier des Musikbusiness – bis heute haben sich ihre kommerziellen Erfolge für Anne Clark nur wenig ausgezahlt – zog sich die Künstlerin Ende 1987 nach Norwegen zurück. Ihre Musik wurde zunehmend ruhiger, wenn auch nicht fröhlicher. 1994 ging Anne Clark das Wagnis ein, mit einer rein akustischen Band zu touren und konnte nicht nur alte Fans begeistern. Auch nach fast 25 Jahren berührt die Pop-Poetin ihre Zuhörer. Wir hatten die Gelegenheit ein ausführliches Gespräch mit ihr zu führen.

 

debil: Du bist auf derzeit Tour. Nach den Regeln des Musikbusiness müsstest es also bald ein neues Album geben. Stimmt das?

Anne Clark: Ich arbeite daran, schon sehr lange. Es ist schon lange her, seitdem ich ein Studioalbum veröffentlicht habe. Es gibt so viele Dinge da draußen, die immer mehr an Wertt zu verlieren scheinen; CDs, Bücher, Filme, das Fernsehen, technische Spielereien, Zeugs, Zeugs, Zeugs! Es widerstrebt mir, etwas zu dieser unersättlichen Konsumenten-Kultur beizutragen. Wenn die Zeit dafür gekommen ist und das Material in Ordnung, dann wird die neue Platte erscheinen!

 

debil: Was können wir von der Tour erwarten? Wer ist mit Dir unterwegs?

Mit mir auf Tour sind Niko (Lai), Murat (Parlak), Jann (Michael Engel) und Jeff (Aug), die die meisten wahrscheinlich schon von den Akustik-Konzerten kennen. Ich arbeite auch mit Rainer von Vielen der mit auf der Bühne sein und für einige Shows Support spielen wird. Ich weiß nicht, ob ihn jeder kennt, aber er ist einfach unglaublich. Momentan ist er mein absoluter Lieblingsmusiker. Seine Energie ist einfach unglaublich und ich empfehle allen, sich Rainer anzuschauen. Es ist wirklich erstaunlich, was er tut.
Für einige Shows arbeite ich mit Manuel Richter von Xabec zusammen. Er ist aus Leipzig und verkörpert das andere Extrem elektronsicher Musik. Für mich ist er unglaublich, absolut kreativ. Er ist wie ein Maler, wie ein Bildhauer, der mit elektronischen Klängen und Einfällen arbeitet. Und ich möchte auch ihn empfehlen. Rainer und er reisen mit uns, so ich denke, im Bus wird es sicher sehr interessant.

 

debil: Wird es wieder ein akustisches Album oder gehst du „back to the roots“?

AC: Nein. Es wird – auch dank dem Einfluss von Rainer und Manuel – ein Projekt, bei dem elektronische und akustische Elemente verschmelzen, was sehr viel Freude machen aber auch sehr kompliziert sein kann. Es ist eines der Sachen, die ich am liebsten tue: Leute zusammenzubringen, die vielleicht gar nicht zusammen sein sollten und dabei zuzuschauen, wie sie arbeiten.

 

debil: Denkst Du, dass das Album nächstes Jahr herauskommt?

AC: Ich hoffe das, es ist aber abhängig davon was eine Plattenfirma damit vorhat!

 

debil: Wirst Du das Album auf Alfa Matrix herausbringen?

AC: Nein, ich würde es gern auf einem größeren Label veröffentlichen. Das ist aber Teil meines Problems. Die Musikindustrie hat sich so verändert, auch die Hörgewohnheiten.

 

debil: Hast Du wieder Probleme, wie am Anfang Deiner Karriere?

AC: Ich habe ein andauerndes Problem mit der Musikindustrie, die niemals wirklich verstanden hat, was ich tue. Diese Leute arbeiten mit „Produkten“. Produkte haben eine Lebensdauer. Davon möchte ich kein Teil sein. Wenn ich mir Musik anhöre, dann, weil sie auf irgendeine Art meine Seele berührt. Das dauert länger an als fünf Minuten. Ja, ich mag hirnlosen Pop auch… aber es gibt noch so viel mehr.
Ich frage mich, wohin der Wert der Dinge entschwunden ist, wenn Du weißt, was ich meine… Es gibt so viele Leute, die viele seltsame und atemberaubende Dinge tun; doch aufgrund all dieses Übermaßes und dem zügellosen Konsum ist es nicht immer leicht, diese zu finden. Das Internet ist offensichtlich der spannendste Ort, um Musik zu entdecken und zu erwerben… Vielleicht veröffentliche ich mein nächstes Album übers Internet.

 

debil: Ich denke, das ist das Hauptproblem eines Künstlers heutzutage; keinen Beitrag zur Konsumentengesellschaft zu leisten, etwas zu tun, das einen Wert hat…

AC: Genau darum geht es. Ich möchte kein Teil dieses Systems sein.

 

debil: Auf der anderen Seite musst Du etwas veröffentlichen, um noch als Künstlerin wahrgenommen zu werden…

AC: Ja, und ich denke, dass ist genau die Frage für mich, ob ich das noch tun will. Ich verstehe wirklich nicht, wohin der Wert der Kunst noch besteht… Ich frage mich wo sie noch in das Leben der Menschen passt oder ins Leben allgemein.

 

debil: Welche Ansprüche stellst Du selbst an Kunst?

AC: Ich denke, in unserer Zeit, im Jahr 2006, sollte Kunst etwas sein, das sich selbst aufrecht erhalten kann. Etwas, das ein tiefes und kraftvolles Leben in sich birgt. Es ist unglaublich, wenn man zurückschaut, was hunderte von Jahren überlebt hat. Natürlich gab es immer Musik und Theater und Malerei. Es gibt Werke, die den Menschen heute noch Freude bereiten. Heute scheint der Zweck der Kunst ein plötzlicher, spontaner, schneller, populärer Effekt zu sein und dann kommt schon das nächste Ding. Kunst sollte viel mehr als das bedeuten.

 

debil: Was denkst Du, wie lässt sich dieses Problem lösen?

AC: Oh, ich habe keine Antworten. Ich versuche einfach, selbst nicht unterzugehen. Es ist wunderbar diese Auswahl und all die Freiheit des Ausdrucks zu sehen und diese fantastische Demokratie der Ideen aber ich weiß nicht, welchem Zweck das alles dient. Es ist großartig, ein Lied am Computer zu schreiben, ein Buch zu veröffentlichen, eine Ausstellung zu zeigen oder digitale Fotos – das ist großartig aber es ist zu viel für mich. Zu viel von allem. Ich versuche, einen anderen Weg zu gehen… weniger… langsamer… tiefer.

 

debil: Du hast mit zahlreichen Musikern zusammengearbeitet, so zum Beispiel mit Implant. Was ist das Besondere an diesen Kollaborationen?

AC: Ich habe immer mit verschiedenen Musikern zusammengearbeitet, all die Jahre. Mein Problem ist, dass ich selbst kein guter Musiker bin. Seit der Schule habe ich versucht, alle Instrumente von A bis Z zu spielen. Aber ich bin zu ungeduldig und explosiv dafür, dazusitzen und zu proben, proben, proben… Ich wollte nicht weitermachen und meine Mitmenschen leiden lassen, wenn ich Keyboard, Gitarre, Violine oder was auch immer spiele, deshalb habe ich angefangen, diese verschiedenen Musiker zusammenzubringen, entgegengesetzte Persönlichkeiten, die in einer normalen Situation vielleicht niemals zusammen arbeiten würden. Ich habe versucht, etwas Neues aus all diesen verschiedenen Ideen zu schaffen. Das war immer so, bis zurück zu „The Sitting Room“ oder „Changing Places“. Da waren es zwei verschiedene Musiker, David Harrow und Viny Reilly, aber es ist ein vollständiges Bild entstanden, wenn das einen Sinn ergibt.

 

debil: Du siehst dich also mehr in der Funktion eines Katalysators?

AC: Ja, absolut. Ich war zum Beispiel immer ein großer Fan von Brian Eno. Der ist auch jemand, der von sich sagt, kein Musiker zu sein aber er bringt die Dinge zusammen. Das ist eine sehr interessante Art zu arbeiten, denke ich. Ich weiß nicht, ob das gut für die Musiker ist. Manchmal glaube ich, dass sie daran verzweifeln, aber am Ende ist es hoffentlich etwas Gutes, was dabei herauskommt.

 

debil: Wenn Du ein neues Stück schreibst, beginnst Du mit dem Text oder mit einer musikalischen Idee?

AC: Das ist verschieden. Oft habe ich einige Texte und entwickle eine musikalische Idee dazu. Die gebe ich dann einem Musiker, von dem ich denke, dass er sie weiterentwickelt oder er kommt selbst mit einer Idee. Manchmal arbeiten wir auch direkt zusammen.

 

debil: Ich habe Dich immer als eine introvertierte Person wahrgenommen aber Du sagst, dass Du gern tourst, wie passt das zusammen?

AC: Ich mag es auf Tour zu sein oder besser gesagt, in mochte es (vielleicht werde ich ja zu alt). Ich bin auch etwas müde herumzureisen. Konzerte sind aber das Schlussstück im Gesamtbild. Es gibt diese verschiedenen Elemente: das Schreiben, die Musiker, die Stimme, das Publikum und der Ort. All das vervollständigt das Bild, das dann hoffentlich stimmig ist. Gewöhnlich ist das so, manchmal nicht. Das ist die Magie des Live-Spielens. Jeder ist im Hier und Jetzt eingebunden. Wir alle haben teil und tragen etwas bei, die Musiker und auch das Publikum.

 

debil: Bist Du auf der Bühne eine andere Person oder ist das ein anderer Aspekt Deiner Persönlichkeit?

AC: Ich denke, das ist mein wahres Ich auf der Bühne, wenn das einen Sinn hat.

 

debil: Im Booklet zu „R.S.V.P.“ grüßt Du auch Deine ostdeutschen Fans. Hattest Du vor der Wende schon Kontakt hierher?

AC: Sehr wenig. Aber nach dem Kollaps war es einfach überwältigend, eine regelrechte Flutwelle an Kommunikation. Es war absolut unglaublich. Ich spiele immer noch sehr gern im Osten, die Leute sind etwas anders; etwas zurückhaltend aber auch sehr leidenschaftlich, sehr intensiv in ihren Gefühlen und in ihrem Ausdruck. Ich liebe es, hier zu spielen…

 

debil: Du bist 2004 beim Wave Gotik Treffen in Leipzig aufgetreten. Gemeinsam mit David Harrow hast Du da vor allem alte Songs gespielt. Welches Gefühl hattest Du dabei?

AC: Mir hat es ehrlich gesagt nicht wirklich gefallen. Auf mich wurde über die Jahre hinweg von verschiedenen Promotern Druck ausgeübt: Warum spielst Du nicht wieder mit David Harrow? Wir möchten, dass Du wieder mit ihm auftrittst! David und ich haben in den 1980ern einige fantastische Dinge gemeinsam gemacht, das war wirklich großartig und ich denke auch das kommerziell erfolgreichste Material. Die Sache ist aber, dass wir aufgehört haben, zusammen zu arbeiten, weil wir gemerkt haben: das war’s! Wir haben wirklich alles zusammen gemacht, was wir machen konnten. Und wir sind sehr verschiedene Menschen. Ich mag ihn immer noch sehr und so haben wir es noch einmal versucht. Wir hatten uns mehr als 15 Jahre lang nicht gesehen. Wir versuchten es nach mehr als 15 Jahre erneut und ich denke, dass es nicht sehr gut funktioniert hat. Nach zwei, drei Konzerten hat es mir wirklich gereicht. Es ist eine Art Beweis für mich und hoffentlich auch für die Leute, die uns gebeten haben, zusammen zu spielen, dass wir alles, was wir gemeinsam tun konnten, getan haben.

 

debil: Du wirst also nicht in dieser Richtung weitermachen?

AC: Vielleicht zündet irgendwann wieder der Funke zwischen uns wie damals in den 1980ern. Dann gibt es keinen Grund „nie wieder“ zu sagen aber im Moment glaube ich nicht, dass das sinnvoll wäre, weil wir so verschiedene Dinge tun.

 

debil: Deine Songs sind schon häufig remixt wurden. Hast Du dadurch ein neues Publikum gewonnen?

AC: Ja, ich bin jedes Mal wieder überrascht. Bei Konzerten sehe ich immer wieder bekannte Gesichter aber auch Leute von 18, 19, 20 Jahren. Ich weiß nicht, woher sie kommen, aber ich freue mich über sie.

 

debil: Kann sein, dass sie was anderes erwarten…

AC: Die müssen das nehmen, was sie kriegen (lacht) Wenn sie es nicht mögen, müssen sie nicht wiederkommen.

 

debil: Meiner Auffassung nach hat sich der Inhalt Deiner Texte etwas verändert, von mehr politischem hin zu einer eher persönlichen Sicht der Dinge. Ist das richtig oder würdest Du das anders bewerten?

AC: Das stimmt schon, zumindest teilweise. Damit habe ich momentan zu kämpfen. Wenn die Leute den Inhalt meiner Texte kennen, dann kann ich diese Sicht verstehen. Ich denke, dass ich – ich sollte die Worte vorsichtig wählen – sehr „wütend“ und „verärgert“ über den Zustand der Welt war.
Ich habe meinen Weg gefunden die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind. Ich bin nur ein Individuum. Wenn du älter wirst, erkennst du zunehmend deine Beschränkungen, Dinge verändern zu können. Wenn ich den Mut hätte, würde ich zum Beispiel George W. Bush erschießen, aber ich glaube, diese Chance wird sich für mich nie ergeben.

 

debil: Das würde wahrscheinlich auch kein Problem lösen.

AC: Aber für mich eine Menge Probleme bedeuten (lacht). Es geschehen so viele schreckliche Dinge in der Welt und niemand von uns kann irgendetwas dagegen tun. Das regt mich sehr auf. Man kommt zu einem Punkt, wo man sein Leben ein wenig ändern muss. Ich denke ich erlebe eine ganze Periode des Übergangs. Ich frage mich: Gibt es überhaupt noch etwas, dass es wert ist, gesagt zu werden? Etwas, worüber es sich zu reden lohnt? Welchen Unterschied macht es, über diese Dinge zu reden? Vielleicht sollte ich einfach in meinen Garten gehen und dort arbeiten…


debil: Das klingt sehr verzweifelt. Welche Sicht auf die Welt hast Du heutzutage?

AC: An meiner Sicht auf die Dinge hat sich wenig geändert. Nenn es verzweifelt wütend, verzweifelt erregt oder verzweifelt frustriert. Und es dauert so lange sein Leben verzweifelt zu leben (lacht), ohne zu explodieren.
Ich versuche einfach mein Leben zu leben ohne Ärger zu bekommen, versuche gesund zu leben. Alles was ich tun kann, was jeder von uns tun kann, ist gut zu sein in seiner Umwelt, in seiner eigenen Welt. Deshalb wird das nächste Album wahrscheinlich auch „Smallest Acts Of Kindness“ (Kleinste Akte der Güte) heißen, weil dass das Größte ist, was wir tun können.

 

debil: Du hast in Deinem Leben einen Bruch gemacht, als Du nach Norwegen gegangen bist. Du schreibst, dass Du dort einen anderen Lebensstil kennen gelernt hast. Kannst Du das bitte näher erläutern?

AC: Bevor ich nach Norwegen gegangen bin, habe ich mein ganzes Leben in London verbracht. Dort gibt es immer Stress, ständigen Wandel und Geschwindigkeit und du weißt nicht, ob gerade Sommer ist oder Winter oder was gerade passiert. Es ist diese konstante Bewegung und ein sehr stressiges Leben. Und ich kann wirklich nicht so leben. Ich bin sehr interessiert an Umwelt- und ökologischen Dingen und wie wir mit der Erde und dem Rest der Welt verbunden sind.
In Norwegen leben sie auf eine ganz andere Art. Norwegen ist so ein großes Land mit einer sehr kleinen Bevölkerung und einem extremen Klima. Man hat sehr, sehr kalte Winter und wunderbare, heiße und lichte Sommer in denen die Menschen wirklich mit der Natur leben. Das hat mir wirklich beigebracht, anders zu leben; es hatte einen großen Effekt auf mein Leben und die Dinge, die mich beschäftigen. Um ein Beispiel zu nennen: Ich habe mir gestern im Fernsehen die Nachrichten angeschaut und da passieren all diese Sachen: Politiker die alle gleich aussehen, den gleichen Unsinn wie alle anderen reden. Das war langweilig. Zum Schluss kam ein Beitrag über Indonesien, den Namen der Insel habe ich leider vergessen. Dort wird nach Mineralien gegraben und dabei wurde das ganze Gebiet mit giftigem Schlamm verseucht. Darunter leiden die ganze Umwelt und die Bevölkerung noch für hunderte von Jahren. Es ist so groß und verheerend und der Beitrag dauert gerade mal zwei Minuten und dann war es an der Zeit für das Wetter und den ganzen Scheiß… Was tut man in einer Welt wie dieser? Wie bewertet man die Dinge? Was tut man selbst? Was kann ein Album und ein paar Songs daran verändern?

 

debil: Da hast Du Recht. Würdest Du aber trotzdem sagen, dass Du noch an Politik interessiert bist? Bist Du selbst engagiert? Ich habe etwas über Umwelt-Projekte gelesen, für die Du dich einsetzt.

AC: Das stimmt. Ich bin kein Wissenschaftler oder Doktor oder jemand der vor Ort Dinge ändern kann. Aber auf meine kleine Art beteilige ich mich bei zwei, drei lokalen Organisationen. Das sind kleine Schritte, alles, was ich tun kann. (Bis ich Bush und Blair wegblase 😉

 

debil: Du hattest immer mehr Erfolg auf dem europäischen Festland als in Deiner Heimat. Du bist ein wenig der „Prophet im eigenen Land“. Hat sich an dieser Situation etwas geändert und ist das immer noch so?

AC: Ich hatte gestern meine erste englische Fernsehshow seit langer Zeit. Da ging es um Poesie, die derzeit überall im Land stattfindet, große Feiern der Poesie und ich habe da auch was gemacht. Aber das ist etwas anders, als das, was ich in Deutschland, Spanien oder Griechenland mache. Es ist etwas seltsam für mich. Ich denke, es verursacht ein tiefes inneres Durcheinander in mir, eine Fremde im eigenen Land zu sein aber es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.

 

debil: Du hast Dich nie gefragt, warum das so ist?

AC: Ich habe mich das schon gefragt, aber welche Antworten hätte ich finden sollen? Es war immer so, als wäre ich in meinem eigenen Land eine Person von einem anderen Planeten… Wie geht man damit um? Ich weiß es nicht. Ich fühle mich ein wenig entwurzelt, ohne ein Gefühl von Zugehörigkeit.

 

debil: Wie steht es um den Erfolg in Amerika? Du hast mir aber auch schon mal eine Geschichte über diese Hip Hop-Leute erzählt, ich glaube es war in L.A. …

AC: Nein Chicago, aber das ist schon eine lange Zeit her, als ich das erste Mal in Amerika war. Wir waren wie gesagt in Chicago und ich bin während des Soundchecks ein wenig in der Stadt rumgelaufen. Als ich zurück zum Veranstaltungsort kam, stand da eine große Clique von diesen schwarzen Jungs. Mit meinen typischen weißen, europäischen Vorurteilen hab ich gedacht: Jetzt gibt es Ärger. Ich versuchte also nervös wie ich war an den Jungs vorbeizukommen und auf einmal standen alle auf und kamen auf mich zu und begrüßten mich auf diese „Oh sister Anne“-Art. All diese großen Rapper kannten meine Arbeit, hatten seit Jahren verfolgt, was ich mache und es war absolut überraschend mit ihnen zu reden und zu verstehen, dass meine seltsame nordeuropäische Poesie dieses total verrückte HipHop-Publikum auf der anderen Seite des Ozeans in Chicago erreicht hatte. Das hatte ich nicht erwartet.

 

debil: Dann kannst Du aber nicht mehr behaupten, dass Deine Arbeit keinerlei Effekt hat…

AC: Nein. Ich fand es überwältigend. Ich glaube, manche Menschen denken, ich bin unhöflich, aber in Wirklichkeit bin ich eine sehr introvertierte und schüchterne Person. Und niemand kann sich vorstellen, wie bizarr es für mich ist, wenn Menschen, die nicht einmal meine Sprache sprechen, Leute aus den verschiedensten Ländern, mit anderer Kultur zu mir kommen und mir sagen, wie sehr sie meine Arbeit beeinflusst hat. Ich möchte dann im Boden versinken… Ich verstehe es nicht und ich weiß wirklich nicht warum… Es ist ein sehr seltsames Gefühl.

 

debil: Vielleicht ist das die beste Art von „Rückzahlung“, die man als Künstler bekommen kann…

AC: Ja, das denke ich auch. Manchmal glaube ich, dass darin etwas sehr ausgeglichenes steckt, denn immer wenn ich nach England komme, dann höre ich Sachen wie: „Was ist denn das für ein seltsamer Mist, den Du machst?“ Vielleicht sollte ich auswandern… Ich bin nicht Teil der Kultur in Chicago oder Athen oder Berlin oder von irgendeinem anderen Ort. Ich gehöre nicht dorthin. Vielleicht sollte ich als Zigeuner umherziehen.

 

debil: Hast Du eine Vision, wo Du in zehn Jahren sein wirst?

AC: Meine ideale Version wäre, dass ich in meiner abgefahrenen Landkommune oder Gemeinschaft lebe, mit einer Menge an Leuten, die viele positive, kreative Dinge tun. Ich galube aber, dass das nur in meinen Träumen passiert. Ich bin mir nicht wirklich sicher.

 

debil: Du träumst von einer Hippie-Kommune?

AC (lacht): Bitte benutz nicht das H-Wort! Nicht Hippie! Ich denke an etwas sehr aktives. Eine Arbeits- und Lebensumwelt für Menschen, die zusammen arbeiten. Ich weiß nicht, ob es sowas in Deutschland gibt. Man sieht so viele Menschen, die darum kämpfen, einen Platz zu finden, ihren Job zu behalten, zu arbeiten, ihre Steuern zu bezahlen. Alle machen es auf ihre isolierte Weise auf eine sehr individuelle Art. Bis zu einem bestimmten Grad sollte es auch so sein, aber wenn du siehst, wie diese Menschen die ganze Zeit kämpfen um irgendwie durchzukommen, dann denkt man: Wir sollten es versuchen… Es wurde ja schon versucht, besonders in den letzten Jahren in Ostdeutschland und anderenorts. Aber es wurde auf eine sehr politische Art versucht und ich spreche über kleine Gruppen. Wie die Amish in America!

 

debil: Es geht auch darum, Energien zu verbinden, stimmt’s?

AC: Genau! Es gab ein Forschungsprojekt, ich glaube in Deutschland, das gezeigt hat, wie viele Ressourcen gespart werden können, wenn Menschen zusammen leben und arbeiten.
Wenn ich zusammenleben sage, meine ich nicht die Hippie-Kommune, wo jeder reinschneit und wo den ganzen Tag Dope geraucht wird. Ich denke da eher an die gute alte Amish-Art, auf eine sehr idealistische Weise Es ist eine Gemeinschaft, die auf sehr seltsame Art funktioniert.

 

debil: Aber es hat sie nicht vor der bösen Welt draußen geschützt, wie wir erfahren mussten…

AC: Nein, leider nicht. Und dabei haben sie das als letzte verdient, weil sie versuchen, auf eine sehr reine Art zu leben mit ihrer Naivität oder Unschuld.

 

debil: Du hast Dich selbst mehrmals als naiv bezeichnet, besonders was Deine Beziehung zur Musikindustrie betrifft. Das Naive ist Dir also nicht fremd…

AC: „Naiv“ ist ein seltsames Wort, weil es gleichzeitig etwas sehr positives oder negatives bedeuten kann. Manchmal frage ich mich aber ob ich nicht eher dumm als naiv bin [Ein Satz, den man verstehen kann, wenn man weiß, wie oft Anne Clark schon von irgendwelchen Managern ausgenutzt wurde.]. Es gibt diese Reinheit in einigen Menschen, selbst noch in dieser total verrückten Welt. Es gibt noch Menschen, die versuchen auf eine reine Art zu leben, egal ob du jetzt mit ihren Ansichten konform gehst oder nicht. Ich hätte nichts dagegen, eine Weile bei den Amish zu leben.

 

debil: In all den Jahren hast Du zahlreiche literarische Einflüsse verarbeitet. Bist Du eine von diesen Personen die ständig liest?

AC: Ich könnte die ganze Zeit lesen aber man muss ja auch leben. Gerade beschäftige ich mich für einen Song für das nächste Album mit organisierten Religionen. Dazu habe ich hier eine Enzyklopädie über alle seltsamen Glauben, amüsante Täuschungen und gefährliche Irrglauben, die es jemals gab. Eine gute Quelle für Informationen über all diese verrückten Dinge, die um uns herum geschehen, im zunehmenden Maße hier in Großbritannien.

 

debil: Aber Du bist nicht auf diese Art religiös…?

AC. Ich bin nicht religiös im Sinne politisch organisierter Religionen, absolut nicht! Und ich denke, man sollte das auch nicht tolerieren.

 

debil: Würdest Du dich als spirituell bezeichnen?

AC. Spiritualität und Religion sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ich habe gerade ein Essay von Salman Rushdie gelesen, Du weißt sicher, dass gegen ihn vor einiger Zeit dieses Todesurteil ausgesprochen wurde, und er schreibt: Religion wie alle inneren Dinge sollte privat in den eigenen vier Wänden ausgeübt werden und im eigenen Leben. Mit Bush und seinem ganzen Kreuzzug gegen den Islam ist es eine sehr öffentliche Sache geworden. Auf der anderen Seite hast Du diesen Aufschwung des fundamentalen Islam… Leute, die England in Islamabad verwandeln und Sharia-Gesetze bei uns einführen wollen. Wie können wir uns diesen religiösen Wahnsinn in unserer Zeit überhaupt anhören?

 

debil: Momentan denke ich manchmal, die großen Religionen arbeiten zusammen… Hast Du gehört, was der Papst über den Islam gesagt hat?

AC: Ja, natürlich. Es gibt einen Krieg zwischen extremen Christen und Moslems. Die Juden mischen auch mit und all die anderen. Ich kann einfach nicht glauben, dass wir immer noch nichts gelernt haben von den Konflikten und Tragödien, die Religion in der Politik verursacht hat… Ich dachte, wir wären als menschliche Spezies soweit gekommen, um das zu stoppen. Jeder hat das Recht, seine eigene Religion auszuleben, aber bei Religion sollte es um Frieden, Ethik, Moral und Liebe gehen. Ich glaube ich klinge schon wieder wie ein Hippie…
Oftmals haben religiöse Menschen, die Fanatiker auf jeder Seite, Christen, Juden, Moslems, wer auch immer, kein „rationales“ Leben, sie können die Dinge nicht verstandesmäßig betrachten. So ist nur ein Idiot auf der einen Seite notwendig, der etwas sagt und auf der anderen Seite auch, so schaukelt sich das hoch. Wenn einer dieser Leute Macht über die anderen bekommt, dann hast Du überall diejenigen, die Ärger machen…

 

Dem ist nichts hinzuzufügen…

 

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