Benevolent Pain, 2025
Intro: Ein Plädoyer für die CDR
CDR-Sampler sind so 1990er, mag Mancher denken aber ich stimme dem nicht zu. Machen wir uns nichts vor: Diejenigen, die noch Musik kaufen und nicht nur „streamen“, sind überwiegend audiophil und Sammler – d. h., sie kaufen Vinyl, manchmal auch Original-Tapes. Wer das nicht will, geht gleich digital, bei Bandcamp oder wo auch immer im Netz. Wozu sich das ganze Zeug in die Wohnung stellen, wenn man seine Musik jederzeit dabei haben kann? Auf dem heimischen Rechner, der Anlage, dem Telefon…
Die CDRs sind 1990er, aber sie bieten eine hervorragende Schnittstelle zwischen den beiden Hörgewohnheiten. Wer sich Platten kauft, liebt das Objekthafte – und das bietet die CDR. Wer digital kauft, der setzt mehr auf Verfügbarkeit und es ist nicht allzu schwer, aus einer CD digitale Klänge zu zaubern. Ein Rechner mit CDR-Laufwerk ist da sicher hilfreich aber irgendein Weg findet sich schon, schlimmstenfalls fragt man nach einem Bandcamp-Code. Somit ist die CDR ein Angebot an jene, die immer noch „gern was in der Hand halten“ und an jene, die ihre Musik überall mit hinnehmen wollen. Und CDRs sind preiswert für die Macher, die nur eine sehr diffuse Vorstellung haben dürften, wie groß ihre Zielgruppe ist und nicht endlos Mittel einsetzen wollen oder können, um ihre Musik zu „promoten“. Insofern ist die CDR ein recht demokratisches Medium, ganz ohne Kompromisse an die Musikbranche und eine gute Möglichkeit, mit überschaubaren, privaten oder allgemein zugänglichen Ressourcen einen Tonträger zu erstellen. Sie ist damit der digitale Zwilling der Tape-Kultur der 1980er, wenn auch deutlich serieller. Das äußert sich z.B. in den Inlays und Infozetteln, die gedruckt werden oder als Foto beim lokalen Dienstleister entwickelt. Die für den vorliegenden CD-Sampler verwendeten DVD-Hüllen lassen sich auch zum kleinen Preis in großer Stückzahl erwerben und mit verschiedenen Ingredienzien gestalten. Das, was aber wirklich zählt, entstammt dem Universum der kreativen Musikschaffenden – allem voran die Musik.
Listen As Benevolent Pain
Womit wir uns den auf dieser „Scheibe“ gespeicherten akustischen Signalen zuwenden wollen: „Fragore Per Quattuor“ vom Aachener Label „Benevolent Pain“ enthält 13 Titel von vier Projekten. Die in der Schule noch Mathematik hatten, erkennen sofort, dass da eine gewisse Dysbalance herrscht oder verständlich ausgedrückt: Teilt man 13 durch vier, bleibt eins übrig. Schlimm. Und was genau der Titel bedeuten soll, konnte ich auch nicht herausfinden. Das ist aber auch egal, denn ich will ja nicht (vordergründig) über irgendetwas rumphilosophieren, sondern mich dem Klang ergeben. Drücken wir also auf den Play-Knopf und genießen die nächsten 64 Minuten. Selbstverständlich gibt es das Werk auch digital…
Mit „Disgust“ und „You Deserve“ bieten POSITIVE ADJUSTMENTS hammerharte Power Electronics, die wirklich keine Wünsche übrig lassen. Anhänger von Genocide Organ, Wournous Aileen oder Brighter Death Now werden Freudentränen in den Augen haben. Die Art von Musik, bei der man immer lauter drehen möchte, mitschreien, sich in die Masse werfen. Das Gerüst so einfach wie wirkungsvoll: Treibende Loop-Beats, Noise-Einlagen und eine eiskalte Stimme liefern den passenden Soundtrack für den ganz persönlichen Gehirnfasching debiler Mitmenschen. Mit „Amusement“ lassen es POSITIVE ADJUSTMENTS dann noch richtig kreischen und schleifen das Trommelfell mit Sandpapier. Herrlich! Das tut weh! Das tut gut!
Auch wenn sich der Sound nicht vollständig ändert, PERSONS UNKNOWN sind stilistisch dann doch eher im Industrial verwurzelt. Wenn die fräsende Stimme in „The Individual Perishes In Consumption“ das Hirn langsam zerspant, weiß man, hier ist noch alles Handarbeit. Der stärkere Wechsel zwischen den einzelnen Klanglandschaften bei „District Control“ und der alles andere als optimale Sound sprechen ebenso für die Einordnung ins Genre, wie das metallische Schlagwerk.
Wie ihre Kollegen nutzen PERSONS UNKNOWN den letzten Track ihres Betrags, „Talking to Me“, dazu, andere Klänge anzuschlagen: Ein atmosphärischer Noise Ambient trifft hier auf verstörende Stimmeinlagen. Worum es bei dem Monolog geht, ist kaum festzustellen, doch schwant dem Hörer nichts Gutes.
Der Einsatz von PRAYING FOR OBLIVION erfordert dann erst einmal die Nachjustierung des „Volume“-Reglers – „Splinter Faction“ präsentiert sich als harscher Noise am Rande der Kratzschwelle und frisst sich zu rasant in Anlage und Gehör. Die akustische Verbindung zu schweren Maschinen kommt hier nicht von ungefähr: Rhythmische, pulsierende Klänge unter einem Noise-Kleid erzeugen eine schmerzhafte Hypnose. Bei „Debasement“ wird der Schmerzlevel etwas runter gedreht, das Hypnotische bleibt. Mit „Valley of Glass“ steigen die Frequenzen in hohe Regionen, das Schleifen findet nun in einer anderen Hirnregion statt. Gelegentlich verändert sich an Triggerpunkten die Tiefe der Behandlung. Der Sprung hin zu „Kosovo“ ist radikal aber nachvollziehbar. Noise an der Schmerzgrenze, der trotzdem aber wie unter Watte ans Gehör dringt – es sei denn, Mensch dreht den „Volume“-Regler deutlich nach oben. Der Name des Tracks, „Kosovo“, weist in eine Richtung, bei der das nicht sinnvoll erscheint…
Das letzte Audio-Szenario verantwortet NECROVIOLENCE und wie der Name vermuten lässt, ist das nichts für Zartbesaitete. „Into the Numb Nothingness“ ist echte Psychomusicke, die den Hörer in eine schmerzensreiche Welt versetzt, in der Manches zwar beständig (der Bass-Loop!), vieles aber Bedrohlich ist. „Monitored“ beginnt mit akustischen Schlägen auf den Kopf und Schreien des Hasses. Hier übt jemand die Macht der Verstärkung aus, gnadenlos. „Rotting Fawn“ erweist sich schlussendlich als echter Ohrwurm, der sich in das Hirn bohrt, bis nichts mehr bleibt als weißes Licht. Doch noch vor dem Übergang wird der Delinquent zurückgeholt und weiter gefoltert. Bei all der aufkommenden Verzweiflung bin ich mir sicher, der Mann hinter diesem Projekt ist bestimmt ein sehr freundlicher, zuvorkommender Zeitgenosse aber aus seiner Musik „spark(s) fear and pure animalistic rage“, wie es auf discogs.com geschrieben steht.
Fazit:
Die CDR lebt, warum sollte sie auch nicht. Auf Veröffentlichungen wie „Fragore Per Quattuor“ kann der Künstler noch alles selbst machen und ist auf keinerlei Dienstleister aus der Branche angewiesen. Ein Rechner, mit dem sich CDs kopieren lassen, Rohlinge, ein Drucker, Schere und einiges an Zeit: Fertig ist das „Produkt“ CD-Sampler. Musikalisch und in Hinblick auf das Design ist alles D.I.Y, gemacht von Menschen, die das so wollen, auch, um ein Höchstmaß an inhaltlicher und ästhetischer Kontrolle zu behalten. Das finde ich zutiefst lobenswert.
Industrial, der hier im weitesten Sinne bedient wird, ist aus meiner Sicht nichts „for the masses“. Wie viele Menschen wollen solche Klanglandschaften betreten? Der überwiegende Teil potentieller Hörer würde schreiend wegrennen und sich lieber einer Schlagerparade anschließen, als auf diese Reise zu gehen. Warum das bei mir anders ist? Keine Ahnung. Wahrscheinlich bin ich einfach nur debil. Oder ich empfinde Musik, wie sie auf „Fragore Per Quattuor“ geboten wird – so wie wahrscheinlich die Schöpfer dieser Sounds – als Ventil, um dunkle, negative Gefühle auszuleben, ohne mich selbst und andere zu verletzen 😉 Nach dem Durchlauf der 13 Tracks kann ich die Stille wieder genießen und bin im Reinen mit mir und der Welt. Katharsis fürs Ohr.
Anders ausgedrückt: Ein sehr schönes Werk für Freunde extremer Klänge. Empfehle ich gern weiter. Das einzige Manko für mich sind die Lautstärkesprünge zwischen einzelnen Beiträgen. Ich kann mich noch an eine CD-Player-Funktion erinnern, bei der man den Top Peak hinsichtlich der Lautstärke einer CD ermitteln konnte. Gerade bei sehr dynamischen Klängen ist das eine wirklich hilfreiche Sache 🙂
END-JOY
Es ist immer wieder schön, wenn man einen physikalischen Tonträger sein Eigen nennen kann. Das Material, das Cover, das Booklet. Das kann kein Spotify, Bandcamp und Co. ersetzen. Das hat einfach mehr Seele. Das Basteln eines Covers oder das Umsetzen von Ideen für Verpackungen war immer genauso spannend wie das Machen von Musik selbst.