WGT 16 - ein Rückblick (2)

Samstag

Gegen sieben krieche ich aus dem Schlafsack und gehe mich erstmal duschen. Echt günstiger Zeitpunkt, ich kann die Körperpflege ohne jede Wartschlange hinter mich bringen. Nachdem ich solcherart erfrischt bin, unternehme ich einen kleinen Ausflug in die umliegende Gegend. In der Nähe der agra gibt es einen Bäcker, bei dem ich schon in den letzten Jahren immer mein Frühstück eingenommen und den morgendlichen Kaffee getrunken habe. Dort konnte man in Ruhe sitzen und auch mal das Klo benutzen - ein nicht ganz unwesentlicher Vorzug. Als ich vor dem Laden stehe, muss ich feststellen, dass der Bäcker nicht mehr existiert. Mist! Die weitere Suche führt mich zum REWE-Laden, ein ganzes Stück vom Festivalgelände entfernt. Dort gibt es zwar auch einen Brötchenbereiter aber wer hat schon Lust, in der Verkaufsvorhalle sein Mahl zu sich zu nehmen. Zum Glück ist das Wetter schön und so suche ich mir im Außenbereich einen Fleck, wo ich mein Zeug mumpeln kann. Eine Lösung, wo ich die nächsten Tage mein Frühstück herkriege - der Bäcker hatte auch Sonntag und Montag auf - ist nicht in Sicht.
Bei meiner Rückkehr auf den Zeltplatz entdecke ich noch zwei lustige Läden - einer, an dessen Tür eine Party mit "Beyond The Time" am Abend angepriesen wird und der Klim Bim Club, vor dessen Türen mich ein korpulenter Herr mittleren Alters empfängt und mich quasi zum Frühstück einlädt. Ich lehne dankend ab, lasse mir aber die Telefonnummer aufdrängen, schließlich gibt es hier auch Übernachtungsmöglichkeiten und nicht zu vergessen: billiges Bier!
Nach einem kurzen Aufenthalt am Zelt und im Pressebüro mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Zum einen muss ich mir noch ein paar Kleinigkeiten besorgen, zum anderen will ich später in den Cinestar. Dort angekommen, muss ich feststellen, dass schon "tausende" anstehen. Ein Blick auf den Plan verrät, dass sie auf Emily Autumn warten. Nachdem ich eine Weile herumgehangen hab, nutze ich mein Presseprivileg und schleiche an der Schlange vorbei. Die Mädels sind wirklich ganz hübsch anzuschauen, besonders die eine junge Frau mit der alten Fregatte im Haar gefällt mir. (Wieder daheim informiere ich mich ei myspace, wie die Combo überhaupt klingt und mein Urteil fällt als deutliches "na ja" aus.)
Zu vorgegebener Zeit erscheinen 45 Grave, wegen denen ich eigentlich hier bin und nach einem kurzen freundlichen Gespräch und einem ordentlichen Poserfoto verziehe ich mich wieder. Die nächste Zeit verbringe ich bei ein, zwei Bier chillend auf der Wiese vor der Moritzbastei. Bevor es aber soweit ist, stelle ich mal wieder fest, dass die Leipziger Innenstadt ziemlich verwinkelt und unübersichtlich und es auf der anderen Seite kaum möglich ist, dort eine Flasche Bier zu erwerben. Das soll bestimmt so sein, damit die Penner sich woanders sammeln und die Gastwirte ordentlich Umsatz machen. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als zum Einkaufstempel am Bahnhof zu traben und dort meine "Bullen" (sagt man in Sachsen nicht nur zu Polizisten sondern auch zu Flaschen) einzusacken. Von meinem Ruheplatz beobachte ich ein seltsames Team: Szenegänger - zumindest wenn man nach der Kleidung urteilen darf - die mit Kamera und Fragebogen Leute belästigen. Wer weiß, was das darstellen sollte…

Nach getaner Chillerei marschiere ich zu Ataraxia ins Schauspielhaus, wo ich mich mit einem Freund treffe. Gemeinsam verfolgen wir den sehr angenehmen und etwas exzentrischen Auftritt der Truppe um Francesca Napoli. Im Gegensatz zu den mir noch bekannten Veröffentlichungen pflegen die Italiener jetzt nicht das hymnenhaft-renaissanceartige Liedgut, sondern lehnen sich mehr an französischen Chanson an. Gefällt mir ganz gut. Dass man dabei die Stimme Francescas mögen muss, ist klar, denn sonst wird der Auftritt zur Tortur.

Nach Ataraxia geh ich mit meinem Kumpel erstmal Bier nachfassen und dann zur Moritzbastei, wo wir es uns auf der Mauer über der nach unten führenden Treppe bequem machen. Von dort aus lässt sich das alberne Schaulaufen der Szeneschönheiten hervorragend beobachten und mit spitzen Kommentaren bedenken. Wahrscheinlich sind wir aber nur neidisch, weil uns niemand fotografieren will, weil wir viel zu normal aussehen…
Um Rosa Crux nicht zu verpassen, gehen wir sehr zeitig wieder zum Schauspielhaus zurück und lagern dort in schönster Punkmanier auf dem Fußboden vor dem Saaleingang, von dort aus die schönen Frauen beobachtend, die sich in unserer Nähe sammeln. Das Haus füllt sich zusehends und als die Türen geöffnet werden, gelingt es uns ohne große Mühe einen Platz in der Mitte der ersten Reihe zu ergattern. Hinter uns sitzen übrigens die Musiker von Ataraxia, die sich die Show der Kollegen nicht entgehen lassen wollen.
Diese Show hat es dann wirklich in sich. Zwar hat sich im Vergleich zum Auftritt im Vorjahr nicht wirklich viel geändert aber ich hätte auch kein Problem damit, mir das Ganze jedes Jahr aufs Neue anzuschauen. Schon allein das auf der Bühne aufgefahrene Instrumentarium - ein riesiges Glockenspiel und elektronische Trommler - der Chor, die Fahnen schwenkenden Jünglinge, die gigantische Hintergrundprojektion und die einer Kirche entliehenen Kerzenständer machen etwas her. Dazu kommt gelegentlich ein Dudelsackspieler auf die Bühne, die im Video zu sehenden "Dreckwerfer" tauchen lebendig auf. Dass bei all diesem Drumherum die Musiker selbst nicht untergehen, liegt an ihrer Präsenz: der stoische Bassist, Claude Feeny mit dem Rücken zum Publikum am "Klavier" und vor allem Oliver Tarabo, Sänger und Gittarist als zentrale Figur des Geschehens. Seine Ankündigung vor Konzertbeginn, dass er vorab einige Worte sagen will, weil er nach anderthalb Stunden dazu nicht mehr in der Lage sei, ist alles andere als Angeberei. Bei dem Einsatz, den der Franzose zeigt, ist es ein kleines Wunder, dass er so lange durchhalten kann. Mit einer Intensität, die man heutzutage nur noch selten antrifft, singt er seine liturgisch anmutenden Melodien, genial kontrastiert durch den mehrstimmigen Chorgesang. Auch wenn ich sonst kein allzu großer Fan von Bombastrock bin, bei Rosa Crux wirkt nichts peinlich. Hier stimmt jeder Ton, jede Geste, da ist alles echt. Auch bleibt die Band nicht bei einem "Mittelalter-Klischee" stehen, sondern integriert bewusst Modernes. So treten beim Intro zwei der Chorsängerinnen im Metropolis-Outfit auf und beginnen die Show mit einer energetischen Performance, bei der sie mittels Kontaktmikrophonen Töne erzeugen. Einfach phantastisch, allein schon für dieses Konzert hat sich der Ausflug nach Leipzig gelohnt! Das scheinen viele andere ebenso zu sehen, denn nach dem Konzert und einer erklatschten Zugabe wird der Merchandising-Stand der Franzosen quasi gestürmt und die Verkäufer können gar nicht so schnell kassieren, wie die Sachen weggehen. Ich hoffe mal, dass niemand das Gedränge genutzt hat, um sich auf Kosten der Band zu bereichern…

Richtiggehend elektrisiert marschierte ich dann zum Werk II, wo ich leider nur das Ende der 45 Grave-Show sehen konnte. War schon sehr punkig und hat mit der derzeit aktuellen "Grufti-Mucke" nur wenig am Hut. Trotzdem oder grade deshalb ist es erfreulich zu sehen, dass die alten Helden noch nicht aufgegeben haben und das frenetisch feiernde "zerrissene-Strumpfhosen-Publikum" gab den Amis Recht. Am Merchandising-Stand wurde ich dann fast schwach, nicht weil dort einen CD lag, die ich gern haben wollte, sondern wegen der Dame, die diese verkaufte. Fast zwei Meter groß, mit Leistungsschwimmerkreuz und Iro wollte ich sie unbedingt fotografieren. Auf ihre Frage warum, antwortete ich "You're such an impressing girl", worauf sie mir ein knie- und herzerweichendes Lächeln schenkte. Eine echte Traumfrau…

Nach diesem Erlebnis schlich ich rüber ins UT Connewitz, um ein paar Minuten Bad Sector zu lauschen. Hatte ich schon zweimal gesehen und so überwältigend finde ich die recht statischen Klanglandschaften des Italieners auch nicht, also wechselte ich nochmal ins Werk, um mir ein Bild von Frank The Baptist zu machen. Bis auf einige wenige Stücke hatte ich noch nichts von den Amis gehört und so war ich recht gespannt. Gefallen hat es mir dann letztendlich nicht besonders, was auch am eher mäßigen Sound gelegen haben mag. Weder waren die Melodien besonders "catchy" noch riss mich der Rhythmus allzu sehr mit. Eher langweilig aus meiner Sicht.

Wieder zurück im UT konnte ich noch ein wenig Antlers Mulm bestaunen. Die Musik des Leipziger Projekts würde ich im besten Sinne als Ambient-Pop bezeichnen - eine sehr ruhige Stimmung, schöne Melodien, angenehmer Gesang. Ähnlich verhielt es sich dann bei Fjernlys, den Seitenprojekt eines der beiden Inade-Musiker. Die dort eher als Sprechgesang zu bezeichnende Vokalarbeit wusste zu überzeugen, die Begleitung mit E-Bass und Violine wertete den elektronischen Sound hörbar auf. Nicht superspektakulär aber sehr schön.

Am meisten freute ich mich an diesem Abend auf First Law und ich wurde auch nicht enttäuscht. Der auftretende Herr entsprach zwar optisch überhaupt nicht meinen Erwartungen - etwas adipös und mit langen Haaren wirkte er wie ein in die Jahre gekommener Metalfan - die musikalische Leistung an Bass, Gitarre und Elektronik wusste jedoch zu überzeugen. Deutliche Krautrock-Einflüsse, abgedrehte, psychedelische Sounds und die entsprechenden Visuals sorgten dafür, dass man problemlos in das First Law-Universum abtauchen konnte. Ein sehr angenehmer Trip, der das Publikum zu Zugabe-Rufen hinriss. Wenn man bedenkt, dass dies der erste Auftritt des Projektes war, dann kann man eigentlich nur Hochachtung zollen.

Nach diesem Highlight stieg ich auf dem Heimweg schon zwei Stationen früher aus und besuchte die Beyond The Time-Party. Da es schon gegen halb drei war, passierte dort nicht mehr allzu viel: Der DJ, ein Bekannter aus Dresden, tanzte zu seiner zugegebenermaßen sehr angenehmen (Neo) Folk-Musik meist selbst und die restlichen drei Verbliebenen saßen meist Kopf wippend herum. Beim thematisch passenden "When The May Rain Comes" von Current 93 wurde die wenig belebte Straße zum Dancefloor erkoren und ich wünschte mir, dass noch mehr Leute hier zum Mitfeiern wären. War leider nicht der Fall und so verließ ich den Ort des Geschehens, nachdem ich mein Ein-Euro-Bier geleert hatte.
Einigermaßen tanzwütig geworden, besuchte ich die Disko in der agra, was ich mir allerdings hätte sparen können. Ich frage mich immer wieder, was schlechter Techno mit der Grufti-Szene zu tun hat und ich musste mich einigermaßen zurückhalten, als der eine fette, hässliche und halbnackte DJ sturzbetrunken an mir vorbeiwankte, ihn nicht anzumachen. Genervt und entsetzt darüber, dass der Großteil des Publikums offensichtlich anders dachte als ich, verließ ich nach einer halben Stunde die Dorfdisse, um mich in meinem Zelt der Schwerkraft zu ergeben. Zum Glück hatte es ordentlich geregnet und so hielt mich niemand mit ähnlich bekloppten Klängen vom Schlaf ab. Das bisschen Nässe, das bei den Sturzfluten in mein Zelt eingedrungen war, war ein nicht zu hoher Preis für die Ruhe.

 

Freitag + Samstag + Sonntag + Montag + Bilder + Überblick

 

zurück