Während
ich bisher jede Band, die ich hier in Prag sehen durfte, zumindest interessant
fand, waren diesmal von zehn (elf) Projekten zumindest drei echt mittelprächtig.
Genaueres dazu im weiteren Verlauf des Textes. Ein paar Worte noch vorab
zur Konzertsituation an sich. Da bis auf eine Band alle Auftretenden eher
"ruhige" Musik präsentierten, war das Kino mit seinen aufsteigenden Sitzreihen
eine gute Wahl dafür den Zuhörern und Zuschauern (große Leinwand im Hintergrund)
optimale Bedingungen zu bieten. Die Bands kamen soweit auch alle mit der
Situation klar.
Den
Opener gaben die einheimischen TÁBOR RADOSTI, zwei junge Männer
mit Masken die einen eher Cold Meat-typischen Klangteppich woben. Im Hintergrund
lief eine Diaschau mit computergenerierten Landschaften verziert mit Runen
und anderen mystischen Symbolen. Schon nach dem zweiten Stück verließ
ich gelangweilt den Raum. Auf diese Art von ästhetisch aufgewertetem,
inhaltsleerem Grufti-Industrial hatte ich keine Lust.
Zum
Glück folgte mit VO.I.D. gleich im Anschluss das erste Highlight
des Festivals. Die beiden Herren mit Sonnenbrille lieferten eine energetische
Noise-Show ab, die als einzige die Kraft hatte, die Beschränkungen des
Kinoambientes zu sprengen. Die wilden Krachorgien mit Schreivocals machten
nicht nur den Aktiven Spaß, nach Beendigung jedes Stückes folgte ein enthusiastisches
Gejohle der Zuhörer. Nach Abarbeitung ihres Programms verließen die Musiker
schweißgebadet aber sichtlich euphorisiert die Bühne.
Die folgenden HIEROS GAMOS (ein Seitenprojekt von Lakha Muza) aus
der Slowakei konnten diesem Inferno nichts entgegensetzen. Die in Lack
und Leder gekleideten Damen versprachen wenigstens eine hübsche Show,
aber auch dieser Eindruck täuschte. Zu einem endlosen, mystischen Synthiegedudel,
das zwar sicher für einen trauten Abend daheim geeignet ist, aber nicht
als Untermalung für SM-Praktiken, bewegten sich die Damen eher zögerlich
bis gar nicht. Die stimulierende Wirkung war dann auch eher gering, hätte
ich nicht auf Besserung gehofft, wäre ich sicher eingeschlafen. Der dunkle
Gesang von Frontfrau Gudrun machte das Ganze wenigstens noch erträglich.
Der
Abtritt des flotten Vierers machte Platz für den meines Erachtens beeindruckendsten
Auftritt des Abends: CO Caspar. Der fast 70-Jährige Berliner gehört
zu den absoluten Szeneurgesteinen und begeisterte vor allem durch die
Art und Weise, wie er den Prozess der Klangschöpfung sichtbar machte.
Caspar entlockte seinen selbstgebauten Instrumenten aufregende Töne, die
zu einer ambienten Soundcollage verschmolzen. Der Einsatz von Trommeln
in Kombination mit den elektronischen Klangerzeugern verstärkte den rituellen
Charakter der Performance - die fortschreitende "Enthüllung" des Künstlers
wurde so zu einem Ausdruck der Selbstbefreiung.
Die überwältigende Wirkung sorgte dafür, dass mein Interesse für den Auftritt
der polnischen MOAN ziemlich nachließ. Zwar hatte ich mich ursprünglich
besonders auf dieses Projekt gefreut, am Ende bekam ich höchstens zwei
Stücke mit. Der recht harsche Computer-Sound unterschied sich doch recht
deutlich von dem, was ich von den Polen von CD kannte.
Die Aftershow-Party am Tag 1 war dann nur sehr kurz, denn schon vor dem
Konzert hatte es Beschwerden über die Lautstärke gegeben. Schade, denn
der DJ (soweit ich das begriffen habe ein irischer Plattenunterhalter)
verstand sein Handwerk wirklich hervorragend. So blieb uns denn nichts
weiter übrig, als unsere Schritte in eine 24-Stunden-Bar zu lenken und
uns dort den Rest zu geben. Für die Unterhaltung sorgte eine Art Computer-Jukebox,
die bei reichlich Kronenbestückung Hits aller Art spielte. Ein Großteil
der Anwesenden tanzte. Für mich endete der Abend im Totalabsturz. Als
wir dann gegen halb neun Uhr morgens das Feld räumten war ich mehr tot
als lebendig. Ein Schlafsack, ein blanker Fußboden, Licht aus, endlich
Ruhe…
Nachdem sich mein Körper wieder einigermaßen kalibriert hatte, nutzten
wir die Zeit bis zum Start der Konzerte für einen kurzen Ausflug in die
Stadt. Bei der Rückkehr mussten wir erneut feststellen, dass es gar nicht
so einfach war, den Veranstaltungsort zu finden. Das Gute an solcherart
gezieltem Umherirrens ist, dass man auch mal Ecken der Stadt sieht, die
der Betrachtung sonst entgangen wären. Besonders beeindruckte mich das
Unigelände mit seinen stalinistischen Prachtbauten. Auch die Überquerung
der riesigen Autobrücke war ein echtes Erlebnis. Nach reichlich Wanderung
gelang es uns dann letztendlich doch noch rechtzeitig im Kino anzukommen.
Nach dem ersten Hallo und der Bejahung der Frage,ob es mir wieder gut
ginge, stürzten wir uns ins Geschehen.
Tag
zwei begann mit dem Auftritt von OXYD aus der Slowakei - für mich
eine Fortsetzung des Auftritts von Tábor Radosti mit nur geringfügig anderen
Mitteln. Wieder standen zwei Maskenmänner hinter ihrer Technik und produzierten
ausgedehnte Soundflächen. Das war in etwa so spannend wie ein Häkelabend
in der Seniorengruppe des DRK. Andere Menschen mögen das differenzierter
sehen, mich langweilt diese Pseudo-Evil-Synthiesuppe nur noch.
Zum
Glück ging es nicht den ganzen Abend weiter so. Ihrem Namen alle Ehre
machten die Schweizer SKALPELL, die mich mit ihren messerscharfen
Laptopsounds wieder aus dem Halbschlaf rissen. Zu einem wundervollen Video
im Koyaanisqatsi-Stil ließen die beiden Herren es knarzen und bollern,
so freudig, dass fast das Tanzbein wippte.
Als
nächstes folgte ein zusätzlicher Act mit Namen KOLLAPS - eine Performance,
die für mich zu den absoluten Highlights des Festivals gehörte. Zwei Herren
und eine Dame gaben ganz ohne instrumentale Begleitung Stücke von Laibach,
Kraftwerk und Einstürzende Neubauten sowie Gedichte von Ernst Jandl oder
Kurt Schwitters in lautmalerischer Manier zum Besten. Während z.B. Passagen
wie "Es gibt ein Läbän! Es gibt ein Läbän! Es gibt ein Läbän, vorrr dem
Tod!" (Laibach; Geburt einer Nation) in schönstem böhmischen Tonfall mir
vor Lachen die Tränen in die Augen trieben, lief es mir beim "Schützengraben"
(Jandl?) kalt den Rücken hinunter. Absolut brillant interpretiert und
mit viel Humor und Herzblut umgesetzt. Dass einige meiner Landsleute darüber
diskutierten, wieviel wohl die Tschechen verstanden haben dürften, konnte
meine Freude nicht im Geringsten schmälern.
Nach
so viel Humor folgte sofort wieder der Ernst des Lebens in Form der Darbietung
von SCHLOSS TEGAL. Die düster-ambienten Klanglandschaften des Exil-Pragers
Richard Schneider gehören mit ihrer klaustrophobischen Atmosphäre zum
Besten was das Genre zu bieten hat. Die großformatigen Videoprojektionen
- neben der Skalpell-Show die eindrucksvollsten des Abends - sind gekonnt
aus wissenschaftlichen Aufnahmen aller Art zu einem Gesamtwerk inszeniert.
Das Publikum konnte sich in den Kinosesseln zurücklehnen und den wuchtige
"Film" inklusive "Soundtrack" auf sich wirken lassen. Einen Blick auf
den Akteur sollte man dabei allerdings nicht unterlassen, den Schneider
geht immer 100 Prozent engagiert zu Werke, wie sein Gesichtsausdruck verrät.
Unter
dem Namen STRÉDNI EVROPA trat dann eine Art "All-Star-Band" der
hiesigen Szene auf, die eine wunderbare Mixtur aus elektronischen Sounds,
Metallperkussion und zahlreichen "Zusätzen" bot. Neben Gesang im Death
Metal-Stil und Saxophoneinlagen beeindruckte mich vor allem die Heavy-Piercing-Show
eines Bandmitgliedes. Bisher hatte ich noch nicht live gesehen, wie sich
jemand fette Haken und Nadeln durch die Haut jagen lässt und ich wurde
regelrecht euphorisch beim Anblick des Blutes. Zu dem Zeitpunkt wusste
ich allerdings noch nicht, dass ich bald meinen eigenen Lebenssaft schmecken
durfte.
Die
als letzten auftretenden DO SHASHKA! waren als Ethno-Industrial
angekündigt, was immer das auch sein soll. Die Klangschaffenden auf der
Bühne wirkten eher wie eine Art Hippie-Kommune beim sonntäglichen Musizieren.
Wenn das Ergebnis auch nicht schlecht war - elektronische Basis, dazu
Gitarre, Bass, Gesang - haute mich das Ganze nicht vom Haufen, fehlten
doch jegliche Höhepunkte. Kein Vergleich zu den Landsleuten von Strédni
Evropa.
So
ging das Festival leider auch recht glanzlos zu Ende. Da sich das Angebot
ergab, sattelten wir gleich nach Schluss die Pferde und fuhren nach hause.
Einen zweiten Absturz hätte ich außerdem nicht verkraftet. Auf den letzten
Metern geriet ich, schon in der Straßenbahn nach Hause sitzend, noch mit
einem jungen, glatzköpfigen Mann aneinander, der mich unbedingt als Zecke
bezeichnen musste. Die anschließende Diskussion endete damit, dass ich
mir einen Volltreffer einfing und wortlos zu Boden ging. Erwacht bin ich
dann liegend, mit ordentlich Suppe in der Fresse und reichlich genervt,
denn es war schon fast halb sieben und ich wollte ins Bett. So konnten
mich die Weißbekleideten auch nicht überzeugen, mich zur Beobachtung ins
Krankenhaus verfrachten zu lassen und die Freunde in grün fuhren mich
freundlicherweise nach Hause. Als ich die Tür öffnete, stand meine Frau
da, die bei meinem Anblick erschrak, schließlich sah ich aus, als wenn
ich halb Dresden ausgesaugt hätte. Die geplatzte Lippe hab ich dann erst
irgendwann am Nachmittag nähen lassen.
Wozu
ein T-Shirt kaufen? So eine hübsche Narbe
ist ein
viel dauerhafteres Einnerungsstück!
Fazit:
Das Festival in Prag war mal wieder ein sehr angenehmes Erlebnis, wenn
ich auch musikalisch diesmal nicht nur zufrieden war. Die guten Beiträge
ließen jedoch die mittelprächtigen Zugaben eher als Pausenfüller erscheinen,
so dass sich niemand über den (eh sehr niedrigen) Eintrittspreis ärgern
musste (350 Kc, sind ca. 11 Euro für beide Tage). Aus persönlicher Sicht
freue ich mich stets am meisten auf das Treffen mit den Freunden von Ars
Morta, auf die Party und die interessanten Gespräche mit den Künstlern.
Ganz im Gegensatz zu unseren Veranstaltungen gibt es im Böhmenlande noch
nicht so eine strikte Trennung zwischen Publikum und Aktiven, was ich
sehr angenehm finde. Also: Wenn es mein Gesicht aushält, fahr ich nächstes
Jahr wieder hin!
Impressionen am
Rande des Festivals:
1 2 3
4 5 6
7 8 9
a b
c
d
1:
Backstage: ?, Anna, Macek (beide Wroclaw Industrial Festival), im Vordergrund
Petra (AMU)
2: Backstage: Lecker Essen für Schlossi... Petra diesmal von vorn
3: Das Publikum lauscht andächtig
4: Plattenstand im Foyer
5: Die "Gang": Macek, Anna, ? VO.I.D. & Tom (AMU)
6: Jochen (Torpor Records) beim Fotografieren überrascht
7: Andenkenjäger
8: Steffen an der Kinokasse
9: Das Foyer
a: Richard Schneider aka "Schlossi" und Martinea (AMU)
b: Spassvogel Richard von Einleitungszeit und ein Plattendealer
c: Die junge Dame (deren Namen ich schon wieder vergessen habe) tanzte
als Sangre Dans zur Musik von Einleitungszeit, Tom (AMU)
d: Schlossi und CO Caspar als Publikum
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