X. Prague Industrial Festival
Kino Morava, Prag, Freitag 10. und Samstag 11. Dezember 2004

 

Prag kurz vor Weihnachten - das heißt auch Industrial-Festival-Zeit. Also machte ich mich in Begleitung eines Freundes auf die Fahrt von Dresden in die tschechische Hauptstadt, um mir zwei Tage volles Programm zu geben und mit den Freunden vom Ars Morta Universum zu feiern. Die Suche nach dem Veranstaltungsort gestaltete sich diesmal etwas schwierig, trotz Karte und Wegbeschreibung. Nach einigem Hin und Her fanden wir dann das Kino, entrichteten unseren Obolus und traten ein in die geheiligten Hallen. Sehr schön war schon das Foyer, denn hier waren neben alten tschechischen Filmplakaten die Poster vergangener Ars Morta-Aktionen aufgereiht. Anlass für diese Ausstellung war das runde Jubiläum - die zehnte Festival-Ausgabe. Besonderes konnte also erwartet werden, doch leider muss ich sagen, dass ich mich diesmal nicht 100%ig glücklich auf die Heimreise machte. Grund dafür war der massive Einbruch der "Grufti"-Bands in das Festival-Geschehen.

Während ich bisher jede Band, die ich hier in Prag sehen durfte, zumindest interessant fand, waren diesmal von zehn (elf) Projekten zumindest drei echt mittelprächtig. Genaueres dazu im weiteren Verlauf des Textes. Ein paar Worte noch vorab zur Konzertsituation an sich. Da bis auf eine Band alle Auftretenden eher "ruhige" Musik präsentierten, war das Kino mit seinen aufsteigenden Sitzreihen eine gute Wahl dafür den Zuhörern und Zuschauern (große Leinwand im Hintergrund) optimale Bedingungen zu bieten. Die Bands kamen soweit auch alle mit der Situation klar.

Den Opener gaben die einheimischen TÁBOR RADOSTI, zwei junge Männer mit Masken die einen eher Cold Meat-typischen Klangteppich woben. Im Hintergrund lief eine Diaschau mit computergenerierten Landschaften verziert mit Runen und anderen mystischen Symbolen. Schon nach dem zweiten Stück verließ ich gelangweilt den Raum. Auf diese Art von ästhetisch aufgewertetem, inhaltsleerem Grufti-Industrial hatte ich keine Lust.

  

Zum Glück folgte mit VO.I.D. gleich im Anschluss das erste Highlight des Festivals. Die beiden Herren mit Sonnenbrille lieferten eine energetische Noise-Show ab, die als einzige die Kraft hatte, die Beschränkungen des Kinoambientes zu sprengen. Die wilden Krachorgien mit Schreivocals machten nicht nur den Aktiven Spaß, nach Beendigung jedes Stückes folgte ein enthusiastisches Gejohle der Zuhörer. Nach Abarbeitung ihres Programms verließen die Musiker schweißgebadet aber sichtlich euphorisiert die Bühne.

            

Die folgenden HIEROS GAMOS (ein Seitenprojekt von Lakha Muza) aus der Slowakei konnten diesem Inferno nichts entgegensetzen. Die in Lack und Leder gekleideten Damen versprachen wenigstens eine hübsche Show, aber auch dieser Eindruck täuschte. Zu einem endlosen, mystischen Synthiegedudel, das zwar sicher für einen trauten Abend daheim geeignet ist, aber nicht als Untermalung für SM-Praktiken, bewegten sich die Damen eher zögerlich bis gar nicht. Die stimulierende Wirkung war dann auch eher gering, hätte ich nicht auf Besserung gehofft, wäre ich sicher eingeschlafen. Der dunkle Gesang von Frontfrau Gudrun machte das Ganze wenigstens noch erträglich.

  

Der Abtritt des flotten Vierers machte Platz für den meines Erachtens beeindruckendsten Auftritt des Abends: CO Caspar. Der fast 70-Jährige Berliner gehört zu den absoluten Szeneurgesteinen und begeisterte vor allem durch die Art und Weise, wie er den Prozess der Klangschöpfung sichtbar machte. Caspar entlockte seinen selbstgebauten Instrumenten aufregende Töne, die zu einer ambienten Soundcollage verschmolzen. Der Einsatz von Trommeln in Kombination mit den elektronischen Klangerzeugern verstärkte den rituellen Charakter der Performance - die fortschreitende "Enthüllung" des Künstlers wurde so zu einem Ausdruck der Selbstbefreiung.

        

        

Die überwältigende Wirkung sorgte dafür, dass mein Interesse für den Auftritt der polnischen MOAN ziemlich nachließ. Zwar hatte ich mich ursprünglich besonders auf dieses Projekt gefreut, am Ende bekam ich höchstens zwei Stücke mit. Der recht harsche Computer-Sound unterschied sich doch recht deutlich von dem, was ich von den Polen von CD kannte.

  

Die Aftershow-Party am Tag 1 war dann nur sehr kurz, denn schon vor dem Konzert hatte es Beschwerden über die Lautstärke gegeben. Schade, denn der DJ (soweit ich das begriffen habe ein irischer Plattenunterhalter) verstand sein Handwerk wirklich hervorragend. So blieb uns denn nichts weiter übrig, als unsere Schritte in eine 24-Stunden-Bar zu lenken und uns dort den Rest zu geben. Für die Unterhaltung sorgte eine Art Computer-Jukebox, die bei reichlich Kronenbestückung Hits aller Art spielte. Ein Großteil der Anwesenden tanzte. Für mich endete der Abend im Totalabsturz. Als wir dann gegen halb neun Uhr morgens das Feld räumten war ich mehr tot als lebendig. Ein Schlafsack, ein blanker Fußboden, Licht aus, endlich Ruhe…

 

Nachdem sich mein Körper wieder einigermaßen kalibriert hatte, nutzten wir die Zeit bis zum Start der Konzerte für einen kurzen Ausflug in die Stadt. Bei der Rückkehr mussten wir erneut feststellen, dass es gar nicht so einfach war, den Veranstaltungsort zu finden. Das Gute an solcherart gezieltem Umherirrens ist, dass man auch mal Ecken der Stadt sieht, die der Betrachtung sonst entgangen wären. Besonders beeindruckte mich das Unigelände mit seinen stalinistischen Prachtbauten. Auch die Überquerung der riesigen Autobrücke war ein echtes Erlebnis. Nach reichlich Wanderung gelang es uns dann letztendlich doch noch rechtzeitig im Kino anzukommen. Nach dem ersten Hallo und der Bejahung der Frage,ob es mir wieder gut ginge, stürzten wir uns ins Geschehen.

Tag zwei begann mit dem Auftritt von OXYD aus der Slowakei - für mich eine Fortsetzung des Auftritts von Tábor Radosti mit nur geringfügig anderen Mitteln. Wieder standen zwei Maskenmänner hinter ihrer Technik und produzierten ausgedehnte Soundflächen. Das war in etwa so spannend wie ein Häkelabend in der Seniorengruppe des DRK. Andere Menschen mögen das differenzierter sehen, mich langweilt diese Pseudo-Evil-Synthiesuppe nur noch.

  

Zum Glück ging es nicht den ganzen Abend weiter so. Ihrem Namen alle Ehre machten die Schweizer SKALPELL, die mich mit ihren messerscharfen Laptopsounds wieder aus dem Halbschlaf rissen. Zu einem wundervollen Video im Koyaanisqatsi-Stil ließen die beiden Herren es knarzen und bollern, so freudig, dass fast das Tanzbein wippte.

  

Als nächstes folgte ein zusätzlicher Act mit Namen KOLLAPS - eine Performance, die für mich zu den absoluten Highlights des Festivals gehörte. Zwei Herren und eine Dame gaben ganz ohne instrumentale Begleitung Stücke von Laibach, Kraftwerk und Einstürzende Neubauten sowie Gedichte von Ernst Jandl oder Kurt Schwitters in lautmalerischer Manier zum Besten. Während z.B. Passagen wie "Es gibt ein Läbän! Es gibt ein Läbän! Es gibt ein Läbän, vorrr dem Tod!" (Laibach; Geburt einer Nation) in schönstem böhmischen Tonfall mir vor Lachen die Tränen in die Augen trieben, lief es mir beim "Schützengraben" (Jandl?) kalt den Rücken hinunter. Absolut brillant interpretiert und mit viel Humor und Herzblut umgesetzt. Dass einige meiner Landsleute darüber diskutierten, wieviel wohl die Tschechen verstanden haben dürften, konnte meine Freude nicht im Geringsten schmälern.

    

Nach so viel Humor folgte sofort wieder der Ernst des Lebens in Form der Darbietung von SCHLOSS TEGAL. Die düster-ambienten Klanglandschaften des Exil-Pragers Richard Schneider gehören mit ihrer klaustrophobischen Atmosphäre zum Besten was das Genre zu bieten hat. Die großformatigen Videoprojektionen - neben der Skalpell-Show die eindrucksvollsten des Abends - sind gekonnt aus wissenschaftlichen Aufnahmen aller Art zu einem Gesamtwerk inszeniert. Das Publikum konnte sich in den Kinosesseln zurücklehnen und den wuchtige "Film" inklusive "Soundtrack" auf sich wirken lassen. Einen Blick auf den Akteur sollte man dabei allerdings nicht unterlassen, den Schneider geht immer 100 Prozent engagiert zu Werke, wie sein Gesichtsausdruck verrät.

    

Unter dem Namen STRÉDNI EVROPA trat dann eine Art "All-Star-Band" der hiesigen Szene auf, die eine wunderbare Mixtur aus elektronischen Sounds, Metallperkussion und zahlreichen "Zusätzen" bot. Neben Gesang im Death Metal-Stil und Saxophoneinlagen beeindruckte mich vor allem die Heavy-Piercing-Show eines Bandmitgliedes. Bisher hatte ich noch nicht live gesehen, wie sich jemand fette Haken und Nadeln durch die Haut jagen lässt und ich wurde regelrecht euphorisch beim Anblick des Blutes. Zu dem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, dass ich bald meinen eigenen Lebenssaft schmecken durfte.

      

      

      

Die als letzten auftretenden DO SHASHKA! waren als Ethno-Industrial angekündigt, was immer das auch sein soll. Die Klangschaffenden auf der Bühne wirkten eher wie eine Art Hippie-Kommune beim sonntäglichen Musizieren. Wenn das Ergebnis auch nicht schlecht war - elektronische Basis, dazu Gitarre, Bass, Gesang - haute mich das Ganze nicht vom Haufen, fehlten doch jegliche Höhepunkte. Kein Vergleich zu den Landsleuten von Strédni Evropa.

So ging das Festival leider auch recht glanzlos zu Ende. Da sich das Angebot ergab, sattelten wir gleich nach Schluss die Pferde und fuhren nach hause. Einen zweiten Absturz hätte ich außerdem nicht verkraftet. Auf den letzten Metern geriet ich, schon in der Straßenbahn nach Hause sitzend, noch mit einem jungen, glatzköpfigen Mann aneinander, der mich unbedingt als Zecke bezeichnen musste. Die anschließende Diskussion endete damit, dass ich mir einen Volltreffer einfing und wortlos zu Boden ging. Erwacht bin ich dann liegend, mit ordentlich Suppe in der Fresse und reichlich genervt, denn es war schon fast halb sieben und ich wollte ins Bett. So konnten mich die Weißbekleideten auch nicht überzeugen, mich zur Beobachtung ins Krankenhaus verfrachten zu lassen und die Freunde in grün fuhren mich freundlicherweise nach Hause. Als ich die Tür öffnete, stand meine Frau da, die bei meinem Anblick erschrak, schließlich sah ich aus, als wenn ich halb Dresden ausgesaugt hätte. Die geplatzte Lippe hab ich dann erst irgendwann am Nachmittag nähen lassen.

Wozu ein T-Shirt kaufen? So eine hübsche Narbe
ist ein
viel dauerhafteres Einnerungsstück!


Fazit:

Das Festival in Prag war mal wieder ein sehr angenehmes Erlebnis, wenn ich auch musikalisch diesmal nicht nur zufrieden war. Die guten Beiträge ließen jedoch die mittelprächtigen Zugaben eher als Pausenfüller erscheinen, so dass sich niemand über den (eh sehr niedrigen) Eintrittspreis ärgern musste (350 Kc, sind ca. 11 Euro für beide Tage). Aus persönlicher Sicht freue ich mich stets am meisten auf das Treffen mit den Freunden von Ars Morta, auf die Party und die interessanten Gespräche mit den Künstlern. Ganz im Gegensatz zu unseren Veranstaltungen gibt es im Böhmenlande noch nicht so eine strikte Trennung zwischen Publikum und Aktiven, was ic
h sehr angenehm finde. Also: Wenn es mein Gesicht aushält, fahr ich nächstes Jahr wieder hin!

 

Impressionen am Rande des Festivals:

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1: Backstage: ?, Anna, Macek (beide Wroclaw Industrial Festival), im Vordergrund Petra (AMU)
2: Backstage: Lecker Essen für Schlossi... Petra diesmal von vorn
3: Das Publikum lauscht andächtig
4: Plattenstand im Foyer
5: Die "Gang": Macek, Anna, ? VO.I.D. & Tom (AMU)
6: Jochen (Torpor Records) beim Fotografieren überrascht
7: Andenkenjäger
8: Steffen an der Kinokasse
9: Das Foyer
a: Richard Schneider aka "Schlossi" und Martinea (AMU)
b: Spassvogel Richard von Einleitungszeit und ein Plattendealer
c: Die junge Dame (deren Namen ich schon wieder vergessen habe) tanzte als Sangre Dans zur Musik von Einleitungszeit, Tom (AMU)
d: Schlossi und CO Caspar als Publikum


 

weitere Bilder

 

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