Wroclaw Industrial Festival (Donnerstag 6. bis Sonntag 9. November 2008)

Wroclaw Industrial Festival 2008. Diesmal geht das Ganze von Mittwoch bis Montag, der Dienstag ist polnischer Nationalfeiertag, weshalb die Einheimischen frei haben. Ich leider nicht und so habe ich mich entschlossen, von Donnerstag abend bis Montag früh dem Ereignis beizuwohnen, zur Mittagszeit werde ich wieder daheim sein. Soweit der Plan.


Donnerstag

Mit dem Zug geht es nach Wroclaw, das ist von Dresden aus wieder sehr einfach geworden. Umsteigen in Görlitz - einfach auf der anderen Seite des Bahnsteiges, zack, das war's. Das schafft man auch ohne jede Kenntnis der polnischen Sprache. Der Anschlusszug endet in Wroclaw, also auch hier keine Gefahr, plötzlich und unvermutet im polnischen Hinterland aufzuwachen. Wie langweilig! Die polnischen Züge sind, auch wenn sie von außen reichlich verlottert aussehen, bequem und sauber. Nur die Toilette sollte Frau nicht unbedingt benutzen…
Angekommen in Breslau konnte ich anhand meines Stadtplanes (einen solchen habe ich immer dabei, wenn ich in einer mir -relativ- unbekannten Stadt bewege) war es kein Problem, das Hostel zu finden, allein anhand der Beschreibung aus dem Internet wäre es wohl etwas schwieriger geworden, den richtigen Abzweig zu erwischen. Dort angekommen, kann ich erst einmal nichts zum Meckern finden, was sich später aber noch ändern soll. Auch hier alles sauber und stressfrei - ein bisschen dämlich ist, dass vor den Internetfähigen Computern keine Stühle stehen und man seine weltweite Kommunikation im Stehen erledigen muss. Die Betreiber wissen schon warum, denn so kommt niemand in Versuchung nächtelang zu surfen. Egal, die paar Dinge, die ich der Welt mitzuteilen habe, lassen sich in wenigen Minuten sagen.
Das Zimmer ist OK, zehn Betten wie in der Jugendherberge, durchnummeriert - don't change or we'll charge you! - mit einem dazugehörigen Schließfach. Für einen echten Einbrecher wären die Schrankwürfel zwar kein Problem aber schließlich geht es ja in erster Linie darum, die Wertsachen nicht offen rumliegen zu lassen. "Führe uns nicht in Versuchung…" und so. Auch alles soweit in Ordnung und ich begebe mich nach dem Verpacken meiner Klamotten auf die Suche nach der Location des Abends. Die finde ich nach einiger Zeit, nicht jedoch das anvisierte vegetarische Restaurant, weshalb ich mich reichlich hungrig an einem "Green Point"-Imbiss dazu verleiten lasse, eine Art Baguette zu essen. Das Ganze wenig schmackhafte Teil kostet mich fast 12 Sloti (ca. 3,50 Euro) und schmeckt nach nix. Zum Glück kann ich noch verhindern, dass mir die Dame hinterm Schalter das Gemüse in Ketchup und Mayo ertränkt. Am nächsten Tag finde ich dann besagtes vegetarisches Restaurant namens "Green Way" und dort bekomme ich für ungefähr das gleiche Geld schmackhafte fleischfreie Kost. Worauf ich mich entschließe, all meine größeren Mahlzeiten an diesem Ort einzunehmen. Eine Entscheidung, die ich in keiner Weise bereut habe, zumal das kleine Bistro nur wenige Minuten von Unterkunft und Veranstaltungsort(en) entfernt liegt.

Kommen wir aber zurück zum Festival. Dessen offizielle Eröffnung findet am Anreisedonnerstag statt. Die Veranstaltung und das dazugehörige Konzert finden in einer Galerie statt, genauer gesagt in deren Eingangshalle. Die wirkt "klassisch" mit Säulen, Rundbögen und Kuppel und ist extrem hoch. Rechts und links gehen Treppen in den ersten Stock, auf denen das Publikum Platz nimmt. Zwei beeindruckende Boxenpaare sorgen für einen fetten Sound, von jeder Seite einsehbare Projektionen (dreimal das Gleiche) ergänzen das Ganze um die entsprechenden Impressionen.
Bevor es richtig losgeht, läuft schon Musik und ich frage mich, ob das schon dazugehört oder nicht. Tut es aber nicht, da erst einmal die Einleitung folgt, von der ich natürlich kein Wort verstehe und dann wird ein Buffet mit Knabbereien eröffnet. Mir gelingt es, ein Glas Rotwein abzufassen, Bier gibt es leider keins. Dann beginnt die Show. Angekündigt sind SEBASTIAN MEISSNER von Random Inc und ROBERT B. LISEK von Fundamental Research Laboratory. Beide Namen sagen mir bisher nichts und es gelingt mir bis zum Schluss auch nicht, herauszubekommen, wer denn nun wer ist. Erst die nachträgliche Recherche im Internet bringt Klarheit.
Der Sound beider Künstler lässt sich als Ambient beschreiben, wobei Meissner eher Geräusche wie aus einer seltsamen Maschine erzeugt, die er über konstante Basisdrones legt. Dazu gibt es eine Videopräsentation, bei der interessante Bilder aus aller Welt gezeigt werden, wobei das Ausgangsmaterial mit zunehmender Laufdauer immer mehr verfremdet wird und am Ende kaum mehr als geometrische Figuren zeigt.
Robert B. Lisek übernimmt im fliegenden Wechsel die Maschinen und traktiert die Zuhörer mit einem gigantischen Frequenzchaos. Gegen Ende des Auftritts reizt er dies bis an die Belastungsgrenze des Gehörs aus. Ich bin froh, dass ich meine Ohrstöpsel dabei habe! 80 Prozent des Publikums sind offensichtlich nicht so gut geschützt verlassen den Veranstaltungsort vorzeitig. Ein weiterer Grund könnte zudem sein, dass die Videoprojektion - seltsames Zeug, das manchmal an alte Cleopatra-Filme erinnert - irgendwann zum Stocken kommt und damit eine wichtige Komponente der Unterhaltung entfällt. Oder weniger freundlich ausgedrückt: Es wird langweilig.

Den Abend lasse ich zusammen mit einem neuen Bekannten ausklingen. Selbiger war seinerseits mit einem Herrn von Anenzepahlia bekannt, so dass wir uns an die Künstler und ihre polnischen Begleiter hängten, um in einer Mischung aus Biergarten und Studentenkneipe zu landen. Der Laden, in den wir eigentlich wollten, ein sehr schönes Jugendstil-Café, war leider wieder einmal gnadenlos überfüllt, wie eigentlich immer, wenn ich bisher dort war. Nun gut, gingen wir also einen Eingang weiter und setzten uns in die kalte Abendluft, um unsere Leiber mit Bier zu befeuchten. Dummerweise hielten wir uns nicht an den Rat unserer polnischen Begleiter und tranken das gezapfte Bier - die Polen selbst hielten sich an den in Flaschen abgefüllte Gerstensaft. Die Folgen dieses Fehlers musste ich den ganzen folgenden Tag über ausbaden, denn mein Schädel dröhnte wie verrückt. Der Vorsatz, mal kein Bier zu trinken, hielt dann aber nicht allzu lang.


Freitag

Der erste "richtige" Abend des Festivals fand wie im vergangenen Jahr in der großartigen "Gothic Town Hall" statt. Der Raum sieht aus wie das Innere einer Kirche, die geschätzte Höhe liegt bei zehn Metern (oder mehr, keine Idee). Über das sehr schmale Treppenhaus, in dem geraucht werden durfte, kommt man auf den Balkon, der etwas größer ausfällt, so dass sich hier die Merchandising-Stände befanden und betagte Zuschauer :-) sitzen und dabei bei bester Übersicht das Geschehen in der Halle verfolgen können. Die Probleme waren die gleichen, wie im Jahr zuvor - der Vorraum war eigentlich zu klein, es gab zu wenige Toiletten und durch das Treppenhaus kam man kaum, da es voller Rauchern war. Aber man kann nicht Alles haben…

Der Abend begann mit COMPULSIVE SHOPPING DISORDER. Die drei Polen klangen wie Placebo Effect oder P.N.E. und dem entsprechend lustig und ziemlich klischeemäßig fiel auch die Show aus. Der Sänger hatte den Kopf vollständig umwickelt und spazierte während des Auftritts bestimmt fünf Kilometer über die Bühne. Der eine Keyboarder - offensichtlich der besser aussehende von beiden, versteckt nur sein Musikgerät hinter einem Kreuz aus Metall, der andere sein Gesicht hinter einer Maske. Sehr nett das Ganze aber wenig interessant.
LAND:FIRE aus dem L.O.K.I.-Universum zeigten sich diesmal ungewohnt druckvoll. Während ihre Stücke meist eher sehr ambient sind, rummste es diesmal ganz ordentlich. Während ich sonst bei dieser Musik häufig das Problem habe, dass ich sie mir besser mit Kopfhörern auf dem Rücken liegend vorstellen kann, ließ die Liveumsetzung in Wroclaw keine Wünsche offen. Das Video im Hintergrund, das allerhand mystisches Bildwerk aus dem Alten Ägypten zeigte war kurzweilig und eindrucksvoll. Später hatte ich dann noch Gelegenheit im Backstage mit den Jungs ein paar Worte zu wechseln und war angenehm von ihnen überrascht. So kühl und unnahbar, wie sie auf der Bühne wirken sind sie gar nicht, sondern ganz angenehme und freundliche Leute.
"Nett" (das wollen wir mal nicht als Beleidigung verstehen) sind auch die Herren von ANENZEPHALIA. Auf der Bühne entfesseln sie aber eine sehr brutale Energie, die ihre Show wie eine politische Versammlung mit einem Einpeitscher wirken lässt. Die Botschaften sind, hört man auf die Text, auch alles andere als positiv, die Sicht auf den Menschen an sich ist wohl eher als nihilistisch zu bezeichnen. Anenzepahlia lieferten ein gepflegtes Konzert ab, dass sich von dem in Chemnitz durch die Auswahl der Titel unterschied. Also nix mit zweimal das Gleiche. Die polnischen Zuschauer wussten nicht so Recht, wie sie mit der geballten Aggression umgehen sollten.
INADE spielten dann hauptsächlich unbekanntes Material, mit all den sonst auch für sie typischen Stärken. Ihre Musik wirkt - auch unterstützt durch das Video - immer sehr mysteriös, die Rhythmen sind rituell. Persönlich kann ich mich dem kaum entziehen, der Sound ist voller Kraft und Größe ohne dabei irgendwelche negativen Assoziationen zu wecken. Bei Inade geht es um die Erhabenheit der Natur schlechthin. Statt ausschließlich hinter ihren Pulten zu stehen, nutzten die beiden Inade-Herren diverse Instrumente, um ihr Klangspektrum zu bereichern. Ganz große Kunst aus meiner bescheidenen Sicht.
Den Abschluss des Abends bildet der Auftritt von CARTER TUTTI. Der gefiel mir diesmal besser als das etwas unglückliche Konzert in Berlin, als man gemeinsam mit Matmos spielte und erst anfangen konnte, nachdem draußen das Fußballspiel beendet war. Dass mir die Show besser gefiel, mag auch daran gelegen haben, dass ich die Stücke zum zweiten Mal hörte und die Erwartungshaltung nicht mehr so riesig war. Als jemand, der den Klängen der Chris & Cosey-Zeit zugetan ist, hatte ich wohl anfangs mehr Diskotaugliches vermutet. Carter Tutti verwenden zwar auch noch viele tanzbare Rhythmen, arbeiten aber wesentlich hintergründiger damit als beim Vorgängerprojekt. Persönlich bezauberte mit insbesondere Cosey und es machte mir ungeheuren Spaß, sie zu beobachten. Chris Carter dagegen sieht immer so aus, als ob er grad seine Steuererklärung macht. Eine Regung, egal ob positiv oder negativ, ist von ihm nicht zu erwarten.
Die After-Show-Party war dann reichlich langweilig. Zwei Labtop-DJs (besser gesagt einer und eine "DJane") legten noch eine Weile Stampfmugge auf. Wir leißen uns davon nicht stören und feierten ordentlich weiter.

 

Samstag

Die gastgebenden JOB KARMA eröffneten am Samstag die Show mit ihrem intelligenten Synthiepop. Die Polen boten einmal mehr das beste Video des Abends. Die finsteren Zeichentricklandschaften im Stile eines HR Giger begeistern mich schon seit langem. Musikalisch haben Job Karma ihren ganz eigenen Stil, einen eher ambienten Synthiesound, der fließend und schwelgerisch den Hörer mitreißt bzw. in andere Sphären trägt.
6633 NORTH, das Seitenprojekt von Savage Republic, fiel soundtechnisch ein wenig aus der Reihe. Die beiden Herren - Sänger und Gitarrist Thom Fuhrmann, der mich immer an Joker aus Batman erinnert, und Schlagzeuger Alan Waddington, der optisch durch extravagantes Oberbekleidung auffällt - tobten sich auf der Bühne an verzerrter E-Gitarre und Schlagzeug aus. Musikalisch ist man nicht zu weit vom Hauptprojekt entfernt - epischer, immer etwas düsterer und handwerklich anspruchsvoller Indierock, meist ohne Gesang. Als Fuhrmann bei der Cure-Coverversion "The Hanging Gardens" versuchte, seine Stimme einzusetzen, versagte diese im glatt. Das ist der Preis des vielen Feierns!" Für ihre Gesichtsakrobatik haben sich die beiden Amis an diesem Abend auf jeden Fall einen Sonderpreis verdient!
Die Musik von ANDREW LILIES zu beschreiben, ist eigentlich nicht möglich. Nennen wir es also am besten experimentell, inklusive regelrecht dadaistische Klangbilder. Später bei Nurse With Wound setzte er diesen Ansatz im Rahmen eines vierköpfigen Ensembles fort. Eigentlich auch keine Musik, zu der man wie bei einem Rockkonzert rumsteht…
BLIND CAVE SALAMANDER boten dann eine eher ruhige, klassisch angehauchte Musik. Zu einem Teppich aus fragilen elektronischen Klängen (Paul Beauchamp) gesellten sich Violine (Juli Kent) und Cello (Fabrizio Modonese Palumbo). Drei gestandene Musiker, die das Publikum mit ihren Kompositionen bezauberten. Einfach nur sehr schön, ideal zum Relaxen und Träumen. Der absolute Höhepunkt aus meiner Sicht war das großartige Pink Flyd-Cover "Set the controls for the Heart of the Sun".
Als Headliner zeigten sich NURSE WITH WOUND mit allen musikalischen Wassern gewaschen. Im Viererpack - neben Steven Stapleton standen noch Colin Potter, Matthew Waldron und Andrew Liles auf der Bühne - vollführten einen Parcoursritt durch die verschiedenen Stationen der NWW-Klangwelt. Neben elektronischen Klangerzeugern und allerhand Computertechnik kamen auch einige echte Instrumente zum Einsatz und Waldron sang dazu. Gegen Ende griff sich Stapleton selbst das Mikrophon und es wurde noch einmal richtig rock'n'rollig. Sehr abwechslungsreich und spannend! Aus der Kritik mancher Besucher an den vergangenen Konzerten, die wohl insgesamt reichlich langweilig gewesen sein sollen, hat die Band auf jeden Fall ihre Konsequenzen gezogen und sich deutlich mehr angestrengt.

Die After-Show-Party, bei der Dirk Ivens aka Dive und Eric von Tower Productions aus Dublin auflegten, war dann etwas lahm, da leider kaum jemand in die Gänge kam - nur einige Wenige versuchten als Gogo-Team die Stimmung zu heben. Der club|debil war selbstverständlich dabei...

 

Sonntag

Mein letzter Abend beim Festival war nach den beiden absolut großartigen Shows am Freitag und am Samstag dann nicht mehr ganz so der Brüller.
DISHARMONY aus der Slowakei boten wenig spannenden Dark Electro, der eigentlich nicht der Rede wert war. Kann man nur hoffen, dass diese Musik in den nächsten Jahren nicht beim Wroclaw Industrial Festival Fuß fasst. Nicht wirklich schlecht aber reichlich überflüssiger Grufti-Mist. Ich brauch das nicht.
Es folgte VLADIMIR HIRSCH. Der Prager stand mit Hasskappe hinter seinem Keyboard und brachte seine symphonischen Werke zu Gehör, in diesem Falle eine Uraufführung mit dem Titel "Symphony No. 4, Descent From The Cross". An das Video im Hintergrund kann ich mich nicht mehr erinnern, der Sound gefiel mir allerdings wie immer gut. Wer Hirsch nicht kennt, sieht in ihm schnell eine Kopie von In Slaughter Natives, doch das ist falsch, denn Vladimir Hirsch macht schon viel länger Musik als die Schweden…
Es folgten die belgischen EMPUSAE. Zwar gehören die - diesmal als Soloprojekt - zu den typischen Vertretern des Labtop-Rhythmus-Industrial, mit dem ich eigentlich nicht allzu viel anfangen kann. Empusae bilden hierbei eine Ausnahme, denn im Gegensatz zu vielen Kollegen beschränken Sie sich nicht auf die clubtauglichen Stücke und gängige Presets, sondern machen ihr eigenes, wesentlich abwechslungsreicheres Ding. Bei OIL 10 aus Frankreich konnte man das nun gerade nicht behaupten. Das war einfach nur langweilig und erinnerte an die typischen Großraumdiskos. Gähn!
Nicht wesentlich beeindruckender waren dann IN SLAUGHTER NATIVES. Der Sound kam völlig vom Rechner, den eine nett anzuschauende Dame bediente. Boss Jouni Havukainen übernahm den Gesangspart, wirkte dabei aber meist wie eine Marionette, die in den Fäden hängt. Irgendwie sah er gar nicht mehr finster und kraftvoll aus, sondern eher blass und krank. Da hab ich die Schweden schon wesentlich besser erlebt…

Den Rest des Abends feierten wir wieder ordentlich und es wurde noch mal richtig feuchtfröhlich. Ob es noch eine Disko gab, weiß ich nicht mehr so genau, war auch egal. Ich musste den Abend irgendwie durchstehen und schaffte das auch. 7.48 Uhr fuhr mein Zug und ich saß wie geplant drin.

Fazit:
Es war wieder mal ein schönes Festival! Ich habe alte Bekannte getroffen, neue Freunde kennen gelernt, interessante Gespräch geführt, gute Musik gehört und gefeiert bis zum Umfallen. Was will man mehr???

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