Am nächsten Morgen (gegen Mittag) erwacht unternahm ich einen kurzen Ausflug in die Umgebung. Oberhalb der Unterkunft war das Armeemuseum und ein mehr oder weniger beeindruckendes sozialistisch-heldisches Monument, meines Wissens von den Freunden mit dem roten Stern erbaut. Alles sehr nett anzusehen für Liebhaber der totalen Kunst, ich genoss hauptsächlich die regengetrübte Aussicht auf die Stadt. Nach Rückkehr und reichlichem Gelage in einem der preiswerten und geschmacklich sehr erfreulichen einheimischen Restaurants (Wie kann man in der Tschechei Pizza essen oder zum Asiaten gehen???) fielen wir sehr zeitig im Matrix-Club ein. Bis zum Beginn des ersten Konzertes waren wir schon wieder reichlich angeheitert aber das lässt sich irgendwie nicht verhindern.

Als Headliner waren DELAYER annonciert, das Projekt von Andy Eardley, ehemaliger Zoviet France-Mitstreiter. Klugerweise spielte DELAYER jedoch als erster, denn wie schon bei Bad Sector am Vortage, war die optische Komponente eher nebensächlich. Fast hätten wir gar nicht mitbekommen, dass schon etwas läuft, da Eardley nicht auf der Bühne sondern an der Seite stand. Coole Sounds zwar aber wenig spektakulär. Die meisten Aktiven werden mit der Zeit halt ruhiger. Später konnte ich mich mit dem Musiker noch eine Weile im Backstage unterhalten, wo er sich als sehr zuvorkommender und freundlicher End-Vierziger offenbarte, dessen leicht schottischer Akzent mich in tiefste Verzückung setzte. Im Gegensatz zu dem amerikanischen Kartoffel-im-Mund-hin-und-her-Geschiebe sprechen die meisten Briten doch sehr kultiviert.
Die nachfolgenden AGHIATRIAS bestanden diesmal nur aus Altmeister Vladimir Hirsch, der die Anwesenden auf einen ziemlich dunklen Trip mitnahm. Manchem wurde dabei richtig unheimlich zumute. Hirschs majestätisch-depressive Weisen atmen ein gewaltiges Stück "slawische Seele" und entfalten einen ungeheueren Sog, dem sich kaum jemand entziehen. Selbstmordgefahr!
Aghiatrias mächtiger Auftritt waren jedoch nicht der Grund dafür, dass SPEAR nicht antreten konnten, sondern ein ganz banales Hindernis stand dem Erscheinen der Polen im Wege: Der Hauptakteur des Projektes hatte von seinem Arbeitgeber nicht frei bekommen. Scheiß Kapitalismus kann man da nur sagen.
Dafür gab es von EINLEITUNGSZEIT ordentlich auf die Glocke. Die tschechos-slowakische Vereinigung brachte den gewohnten "Maschinenlärm" zu Gehör, der sie zu einem der interessantesten Projekte der Noise-Szene macht. Die dazugehörige Tanzperformance lotete als einer der wenigen Auftritte die Möglichkeiten der Kombination verschiedener "lebendiger Medien" aus. So schön auch Videos sein mögen - ein agierender Mensch, sei es mit Schleifmaschine oder tanzend im elektrischen Kubus - macht immer mehr her als alle Hightech.
Davon konnten sich die, die bis hierher durchgehalten, von der polnischen Formation JUDE überzeugen lassen. Gnadenlos martialisch, wütend und befreiend fegten Sänger Wiktorund seine Begleiter an Bass und Gitarre über die Bühne, während im Hintergrund heftigst auf Fässern getrommelt wurde, was das Blech hergab. Einziger Ruhepunkt in diesem Inferno, die blonde Keyboarderin des Quintetts. Wie viel von Namen und Erscheinungsbild bei JUDE blanke Provokation ist, sei einmal dahingestellt, als Liveband wissen sie mit ihrem Industrial Hardcore (eine bessere Schublade fällt mir nicht ein) voll zu überzeugen. Für mich waren sie der definitive Höhepunkt des ganzen Festivals.
Zum Abschluss trat noch eine finnische Performance-Künstlerin auf, die grinsend durch den Matrix-Club tänzelte und Marshmallows verteilte. Abgesehen davon, dass die Dame recht niedlich war, beeindruckte vor allem ihr plötzliches Erscheinen. Es ist schon ein ziemlich seltsames Gefühl, wenn man jemanden erst auf einer Leinwand sieht und dann live, wie aus dem Film herausgetreten, mit identischer Kleidung, Schminke etc. Schöner Effekt…

Gemeinsam mit den verbliebenen Neuer Raum-Mitgliedern und Wiktor von JUDE organisierten wir noch unsere ganz eigene Performance. Im nahe gelegenen Tunnel unter dem Monumentberg tobten wir uns an stählernen Türen und Eisengittern aus. Der Sound war einfach unbeschreiblich.
Der Abend endete dann wieder in einem gnadenlosen Besäufnis, wie immer eigentlich. Am nächsten Tag hieß es dann nach Hause fahren, was sich als einigermaßen kompliziert herausstellte. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Terezin (Theresienstadt) kamen wir noch relativ unbeschadet bis kurz vor die Grenze. Der einsetzende Schnee machte dann aber eine einzige Rutschbahn aus den Straßen. Nur die weise Voraussicht unseres Fahrers und seine Schneeketten retteten uns vor längeren Standzeiten und Grabenkämpfen. Nachdem mich die Jungs in Dresden abgeliefert hatten, gerieten sie dann auf der Autobahn in einen Superstau und kamen endlich ca. 12 Stunden nach Abfahrt in Gera an. Nichts desto trotz, wir sind auch nächstes Jahr wieder in der Goldenen Stadt, dann zum 10. Prague Industrial Festival!
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