Wroclaw Industrial Festival 2007 (8. - 11. November 2007) Es war nicht meine erste Reise
nach Wroclaw, doch das erste Mal, dass ich die Gelegenheit ergriff, mir
das Industrial Festival anzuschauen. Also daheim in den Zug gestiegen
und die knapp 300 Kilometer in Angriff genommen. Wer denkt, dass es dank
des Beitritts von Polen zur EU einfach geworden ist, die Partnerstadt
Dresdens zu besuchen, der irrt sich. Ich führ mit dem Zug nach Zgorzelec,
muste dort aussteigen, um ein Haus herumlaufen und in einen Bus einsteigen.
Bevor es aber soweit war, forderte man mich recht unfreundlich aus einem
Auto heraus auf, meinen "Passport" vorzuzeigen. Im Bus war ich
dann wohl der einzige Nicht-Pole und es ging mit dem recht wackligen Gefährt
durch die karge schlesische Landschaft bis zum nächsten Bahnhof.
Selbiger war vom Haltepunkt nicht wirklich als solcher zu erkennen, zum
Glück half mir ein freundlicher Einheimischer mit einer Auskunft.
Der Zug - optisch erinnerte das Innenleben an die späten 1960er Jahre
- war, wie in Polen vielerorts üblich, komplett überheizt. Irgendwann
enterten Massen plärrender Schüler das Gefährt, so dass
mein Schönheitsschlaf unterbrochen wurde
Nachdem ich den ganzen Tag
kreuz und quer in der Stadt rumgerannt war, trudelte ich rechtzeitig in
der "Gothic Hall, Purkyniego 1" ein. Eine sehr schöne Location,
die an eine Kirche erinnert, alles aus Backstein, mit meterhohen Decken.
Schon an diesem Abend zeigte sich, dass die Raumaufteilung jedoch alles
andere als günstig war. Das schmale Treppenhaus, der winzige Bereich
vor der eigentlichen Halle, in den Merchandising, Bierausschank und ein
Verkaufsstand gequetscht wurden. Nicht zu vergessen, dass durch den Raum
der einzige Zugang zu den für diese Menge an Leuten definitiv zu
wenigen Toiletten verlief. Was in der Folge dazu führte, dass sich
zahllose Frauen vor den Türen stapelten und die Männer ihr Heil
in der freien Natur suchten oder um es genauer zu sagen - in einen Ruinenbereich
des Gebäudes pinkelten. Ungünstig wirkte sich zudem das Rauchverbot
im Saal aus, denn all die Suchtkranken standen im eh schon engen Treppenhaus,
um sich die Lungen mit dm heiß begehrten Nikotin zu füllen.
Das überwiegend polnische Publikum ließ sich von all diesen
Misslichkeiten nicht beeindrucken und verbrachte den Abend diszipliniert
und ruhig. Zum Glück gab es noch eine Empore, von der aus man einen
fantastischen Überblick über die Szenerie hatte und wo sich
vor allem die älteren Semester sammelten. Da ich ja ein wenig aufnehmen
wollte - insbesondere die mir noch unbekannten Acts, zog ich es jedoch
vor, mich direkt vor die Bühne zu stellen.
Den dritten Tag verbrachte
ich zum großen Teil mit den Leuten von Post Scriptvm. Wir besuchten
ein sehr seltsames "Nobel"-Restaurant, wo wir wie in einem Monty
Python-Film mehrfach unsere Bestellung dem tatsächlichen Angebot
anpassen mussten. Wir sahen ohne den Einfluss bewusstseinserweiternder
Drogen Gabeln und Löffel über den Wroclawer Markt laufen. Dann
begaben wir uns auf die Jagd nach einem Konverter, mit dessen Hilfe sich
amerikanischer und kontinentaleuropäischer Standard der Stromversorgung
aneinander anpassen ließen, die letztendlich und mit viel Glück
erfolgreich verlief. Nach einer kurzen Pause im Hostel schleppten wir
das Equipment die kurze Strecke bis zur Location. Dabei wurde ich mit
einem Schneeball beworfen, weil man mich wohl fälschlicherweise für
einen bösen Rechtsradikalen hielt. Wirklich mutig war das aber nicht,
meine Herren! Entsprechend nervös spielten POST SCRIPTVM das Eröffnungsset an diesem Abend. Musikalisch merkte man allerdings nichts allzu viel davon. Der mit zahlreichen völlig verschiedenartigen Elementen angereicherte Ambient konnte über die ganze Länge des Konzertes mein Interesse wecken. Dazu trug auch das großartige und sehr düstere Endzeitvideo im Hintergrund bei. Gesang, metallisches Schlagwerk, allerlei Instrumente und andere Klangerzeuger sorgten für einen guten Live-Anteil bei diesem computerbasierten Horrorsoundtrack. Nach Post Scriptvm betraten APOPTOSE in voller Besetzung die Bühne. Das heißt, um die zwei "hauptamtlichen" Musiker bauten sich vierzehn Trommler verschiedenen Alters auf, die Schlagwerker des Leipziger Fanfarenzuges. Als Gast dabei, der Sänger Gary Carey von der Band Joy of Life. Das Set begann mit einem vom weiblichen Part vorgetragenen, ruhigen Gesangesstück, um dann in eine energetische Drumsession mit ambienten Untertönen überzugehen. Carey fügte ein Traditional hinzu, auch seine Sprechstimme Klang ziemlich geil. Der Brite verwendete, vom Apoptose-Kopf unterstützt. Gegen Ende stand der allein auf der Bühne um seine zunehmend New Age-artigen Soundtracks zu spielen. Mit war das auf Dauer etwas zu wenig, so richtig fetzte das Ganze erst mit Unterstützung. KLANGSTABIL hatte ich bereits beim Soundtrack erleben dürfen und ich muss gestehen, mir klingelten die Ohren. Beim Liveauftritt schaltete die Band nicht zurück und so nutzte ich die Gelegenheit ein wenig Abstand zu gewinnen, nachdem ich meine Fotos gemacht hatte. Musikalisch mag ich die Band mit ihrem energetischen Synthiepop eigentlich aber mein Gehör ist mir dann doch etwas wertvoller. Klangstabil spielten zudem nur einen neuen Titel - insgesamt kannte ich die Show also schon vom Elektroanschlag und anderen Gelegenheiten. Die als nächstes angekündigten ORDO ROSARIUS EQUILIBRIO hatte ich auch schon mehrmals gesehen und ehrlich gesagt wurden die Auftritte immerlangweiliger. Diesmal standen neben Frontmann Tomas Pettersson noch drei weitere Herren auf der Bühne, darunter In Slaughter Natives' Jouni Havukainen. Und siehe da, das Quartett wusste zu begeistern. Die häufig etwas langatmigen Stücke bekamen einen angenehmen Drive und auch in ihrer Gesamtwirkung kam die Show eher wie ein dunkles Cabaret rüber als wie eine martialische Versammlung. Der Ausdruck Apocalyptic Pop ist wohl passend für diese Art Musik, die mich so wieder erwarten aus den Socken haute. Bei "The Gospel Of Tomas" sang nicht nur ich lauthals mit "I Glorify Myself! I Glorify Myself For What I am! I Glorify Myself For Who I am!" Ein absolut bewegendes Konzert und das beste von Ordo, das ich bisher gesehen habe. Das Highlight des Abends schlechthin war dann jedoch - wie nicht anders zu erwarten - Merzbow. Ein echter Geräusch- und Krachsturm, der das Hirn an die Schädelrückwand presste. Während die Masse nur ungläubig zuschaute, feierten einige wenige mit wildem Pogo das Klanggewitter. Einer der Fans schaffte es sogar auf die Bühne, wo er neben dem Meister eine lustige Bodyperformance hinlegte - im doppelten Sinne des Wortes. Masami Akita ließ sich davon nicht beeindrucken und zauberte aus Labtop und E-Gitarre seine überwältigenden Lärmkaskaden. Ein echtes Erlebnis, nach dem ich mich nicht mehr sonderlich für die nachfolgende Disko interessierte. Nachdem ich erst Post Scriptvm ins Hostel zurückgebracht hatte und so einen Backstage-Pass ergaunerte, denn die New Yorker mussten abreisen, ging ich zurück zur Location. Jetzt hieß es, den Body-Performer - einen irischen Freund - trotz seines exzessiven Alkoholkonsums unbeschadet ins Trockendock zu bringen, was ebenfalls gelang. Noch einmal ging es zurück zu Location aber viel war hier nicht mehr los und so machte ich mich auf den Heimweg.
Der Sonntag brachte dann erst einmal richtig viel schönen Schnee. Ich stapfte wieder durch die Stadt und konnte mich gar nicht satt sehen an der weißen Pracht. Ein wenig kam ich mir vor, wie beim Russlandfeldzug der Wehrmacht, dick eingemummelt und zugeweht. Die Straßen waren leer und ich konnte Kälte und die extreme Ruhe genießen. Mit letzterer sollte es dann am Abend wieder vorbei sein, schließlich war ich ja wegen der Konzerte in der Stadt. An diesem Abend standen "nur noch" drei davon auf dem Plan, dafür aber sehr hochkarätige. Den Anfang machten, mit einer Stunde Verspätung, VOLCANO THE BEAR, ein britisches Trio, das mir bisher absolute unbekannt war. Die drei Herren sahen ein wenig wie Musikstudenten aus, was sie ja vielleicht auch sind. Ihre Musik zeugte auf jeden Fall von hohem handwerklichen Können auf allen Instrumenten und Klangerzeugern, die den Aktiven in schier endloser Auswahl zur Verfügung standen. Post-Rock, Psychadelic, Gospel, Cabaret, Jazz - alle erdenklichen Stilrichtungen flossen zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Mit zunehmender Spieldauer konnte die Band mich und andere immer stärker in ihr Universum ziehen und am Ende verlangten zahllose Zuschauer Zugaben, von denen eine gewährt wurde. Insbesondere der Sänger und Schlagzeuger lieferte eine beeindruckende Show ab, wenn er voller Inbrunst und sichtlich erregt (von der Musik!) seine Songs intonierte. Nach diesem ersten Highlight enterten Sigillum S die Bühne. Es war schon sehr seltsam mit anzusehen, wie diese vier völlig verschiedenen Typen Mensch miteinander Musik machen. Gelegentlich funktionierte mal was nicht so, wie es sollte, dann gab es böse Blicke. Überhaupt schien mir die Band gespalten zu sein, ein Eindruck, der sicher durch den Bühnenaufbau verstärkt wurde: Ernaldo Bernocchi und eine mir unbekannte, sehr römisch wirkende Dame auf der einen, Paolo Bandera und Luca Digiorgio auf der anderen Seite. Die Musik litt jedoch nicht unter dieser Spannung, im Gegenteil. Die hypnotischen Stücke zwischen Ambient und Ritual wussten von Anfang bis Ende gefangen zu nehmen. Letzte Band des Festivals waren Tuxedomoon, alles Herren in bestem Alter und wirklich gute Musiker. Persönlich kenne ich ja nur eine einzige Platte der Band - nämlich Desire. Von der waren auf jeden Fall ein zwei Stücke zu hören. Den ultimativen Hit "No Tears" sparten sich die New Yorker jedoch. Aus meiner Sicht eine eher unglückliche Entscheidung, denn irgendwie wartete jeder drauf und die etwas angespannte Stimmung und die Zurückhaltung des Publikums hätten sich in Nullkommanichts aufgelöst. Die polnischen Zuschauer kannten sich ganz offensichtlich recht gut im Oeuvre Tuxedomoons aus, es wurden lautstark die verschiedensten Stücke gefordert. Die Band zeigte sich jedoch reichlich reserviert, wahrscheinlich hat man lange nicht zusammengespielt. Trotzdem gab es an der leicht melancholischen Popmusik mit Jazzeinschlag nichts zu meckern. Einfach nur gute Musik. Nach dem Konzert legte DJ Eric noch auf, das erste Mal, dass ich zur Diskomucke tanzte, denn der irische Freund legte wirklich geile Musik auf. Leider war nach etwas über einer Stunde schon wieder Schluss und wir verbrachten den Rest des abends gemeinsam mit den Veranstaltern bei Bier und härteren Alkoholika. Gegen fünf machte ich mich auf den weg zum Hostel, um rechtzeitig sieben Uhr meinen Zug zu erreichen. Die Heimfahrt vertrieb ich mir mittels des Gespräches mit einer netten Polin. Gegen Mittag kam ich dann wieder in der Heimat an, um mich ohne Pause wieder in den Alltag zu stürzen. Insgesamt ein supergeiles Festival, das kaum Wünsche offen ließ. Wahrscheinlich müssen sich die Veranstalter beim nächsten Mal eine neue Location auftreiben, denn teilweise war es reichlich eng. Die viel zu geringe Anzahl an Toiletten wird insbesondere den weiblichen Besuchern in Erinnerung geblieben sein. Ansonsten gab es aber überhaupt nichts zu meckern. Der Titel Industrial Festival ist ein wenig irreführend, was mich persönlich aber nicht stört, eher im Gegenteil. Mal sehen, wer im nächsten Jahr dabei ist, wird sich zeigen. Ich lass mir das Ganze sicher nicht noch einmal entgehen. Auch in Wroclaw selbst gibt es noch eine Menge zu erkunden
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