Kevin Baker - Dreamland (Schneekluth)

Ganz frisch ist dieses Buch nicht - genauer gesagt von 1999 - und doch eine Entdeckung. 700 Seiten fesselnde Schicksale, Unterhaltung, Dramatik und eine gehörige Portion Geschichte in Geschichten aus der Zeit des beginnenden 20.Jahrhunderts in New York. Der Titel "Dreamland" steht dabei nicht nur für das Traumland Amerika, mit dem sich die Hoffnungen so vieler Auswanderer aus aller Herren Länder verbinden, sondern vor allem für den gleichnamigen Vergnügungspark vor den Toren des wachsenden Großstadtmolochs. Hier treffen sie sich alle, die es in New York an Land gespült hat. Freaks, wie Trick der Zwerg, der sich nichts so sehnlich wünscht, wie ein normales Leben zu führen. Oder Esther die Näherin aus einer der zig Fabriken, wo rechtschaffene Menschen versuchen, sich das Geld für ein Dach über den Kopf und etwas zu essen zu verdienen. Oder die beiden Gangster Gyp The Blood, der zum Spaß anderen Menschen das Rückgrat bricht und Kid Twist, der sich wie Gyp mit kleineren und größeren Gaunereien über Wasser hält. Baker erzählt von der Hure Sadie Mendelssohn oder "Big Tim", dem umtriebigen Lokalpolitiker und Scharnier zwischen Ober- und Unterwelt und, nicht zu vergessen, von Sigmund Freud, dem großen Psychiater.
"Dreamland" verbindet die einzelnen Lebensstränge miteinander und knüpft ein buntes Seil, an dem der Leser in die untersten Gefilde der amerikanischen Gesellschaft hinab gleiten kann. Hier sieht er mit den Augen der einzelnen Protagonisten das Elend der Armen, all den Schmutz und die Verwesung, die ihr Leben bestimmen. Wir sind in der Zeit, in der der Kapitalismus noch sein böses Gesicht zeigt, ganz ungeniert oder nur mit einer grellen Clownsmaske verdeckt. Ein klein bisschen Wahnsinn, viel Gesetz und Ordnung und, wie auch heutzutage, schreiende Fassade. Ein Alp-Traumland. Ein Land, in das Menschen aus der ganzen Welt fliehen, weil sie sich in ihrer Heimat keine Chancen mehr auf ihre Zukunft ausrechnen. Irgendwie gleicht diese Realität ein Stück weit der heutigen, jedoch auf einem anderen gesellschaftlich-sozial-technischen Niveau. Eine Art Upward Spiral-Situation (in der Umkehrung eines Plattennamens von Nine Inch Nails) und genau das ist das Fesselnde.

Die Handlung des Buches besteht aus zahlreichen ineinander verwobenen Geschichten, die jeweils aus der Perspektive der Protagonisten erzählt werden. Bacon beleuchtet aus der Position der verschiedenen Ich-Erzähler die Szenerie und erreicht so eine hohe Plastizität. Dabei wirken die Figuren immer glaubhaft, denn Bacon ist ein guter Geschichtenerzähler. Er bleibt stets nah am Leben, lässt auf jedes Hoch ein Tief folgen, zeigt die Licht- und Schattenseiten seiner Gestalten in all ihrer Tragik. "Dreamland" ist kein Heldenepos sondern vielmehr ein detailliert gezeichnetes Sittengemälde, das auch dem Leser von heute einen bleibenden Eindruck von der beschriebenen Zeit vermitteln kann. Aus heutiger Sicht besonders erschreckend ist der dünne Mantel der Zivilisation, der über dem ganzen Geschehen liegt. Das Leben eines einzelnen Menschen zählt absolut nichts. Ob sich da wirklich viel geändert hat?

 

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