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V.A. - Spannung,
Leistung, Widerstand:
Magnetbanduntergrund DDR 1979 - 1990
(Doppel-CD & Buch,
ZickZack / Zonic)
Diese zwei CDs sind unbedingt
hörenswert, sind sie doch vielmehr Archiv als simpler Tonträger.
Konserviert werden darauf Klang-, Ton- und Musikexperimente einer recht
agilen Heimwerker- und Kunstszene der End-DDR. Sicher ist nicht Alles
aus heutiger Sicht großartig, doch vor dem Hintergrund einer zwar
nicht kommerziell so doch ideologisch gleichgeschalteten Kultur ist das
hier präsentierte doch aller Ehren und Erinnerung wert.
Punkig schräges löst sich ab mit experimentell elektronischem,
tanz- mit hörbaren, lustiges mit intellektuell anspruchsvoll bis
verwirrtem. Gleich zu Beginn verunsichert "Der schwarze Kanal"
mit seinen verdrehten Parolen - vor den Elaboraten der Genialen Dilletanten
müssen sich die DDR-Subversiven nicht verstecken. Die Magdalena Keibel
Combo quirlt Brummbärengebrumm, synthetische Beats, schrägen
Gesang und verleierten Heimorgelsound zusammen; erinnert bei "Immer
an der Wand lang" an die Tödliche Doris, Etzel in Mecklenburg
kombinieren einen minimalen No Wave-Sound mit einer opulenten Klangkulisse.
ScHappy klingen mit ihren "Can Dub" sehr indisch, die Erweiterte
Orgasmusgruppe ist mit einer Klangcollage vertreten, Klick & Aus'
Stück ist eher als vertonte Poesie zu verstehen, Stefan Döring
lässt die Musik ganz weg und bewegt sich auf Kurt Schwitters' Pfaden.
Choo Choo Flame klingt ein wenig wie Herman van Veen, "Urtramp"
von Ihr Arschlöcher ist eine mit Geräuschen angereicherte und
mit Effekten aufgebohrte Percusssion-Improvisation.
Eines der geilsten Stücke der ersten CD ist das düster postpunkige
Rosa Extra-Werk "war mir deine schleuder ist dir meine waschmaschine",
dass mit dadaistischem Text und jazzigen Saxophon-Einwürfen verwirrt.
Der Stoffwechsel-Track erinnert mit dem Säufer-Gesang an Freygang.
CD zwei beginnt mit Frank Bretschneider, einem der Protagonisten der AG
Geige und seinem Projekt A.F. Moebius. Der Chemnitzer zeigt sich hier
wie immer sehr minimalistisch, wenn auch mit "echtem" Instrumentarium.
Es folgt der 1000-fach recycelte "Bakschisch for Burundi" Dub,
hier unter dem Namen "Fly Fliege Fly", immerhin mit Fliege.
Richtig der Zeit voraus, fast schon technoid, mit einem monotonen Rhythmus,
Sprachfetzen und seltsamen Lyrics zeigt sich die Kriminelle Tanzkapelle
von der gewöhnungsbedürftig experimentellen Seite. Trotzdem
ein großartiges Stück. Der schöne düstere Track von
den Freunden der italienischen Oper ist leider völlig verleiert -
schade dass man hier nichts anderes genommen hat.
Vieles ist scheinbar vertraut, Ur Tacheles' Walzer "Nino" erinnert
an Mona Mur, Die "Vernissage" der Euphontherapie klingt wie
ein verschollener Throbbing Gristle-Track, Herbst in Peking haben sich
die frühen Einstürzenden Neubauten zum Vorbild genommen und
Aufruhr zur Liebe covern gleich gekonnt die Virgin Prunes. Sehr eiegenständig
ist die Zwitschermaschien um Malerin Conny Schleime. Am besten nennt man
das wohl No Wave.
Manches scheint mir ein wenig sonderbar: so Grabnoct's "Töten
und Fressen" oder das Stück von Pulling The Stringth Behind
The Scenes. Bei ersterem lautet die erste Textzeile "Die roten Fahnen
werden nicht mehr wehen" - das hätte sich in der DDR wohl niemand
getraut offen zu sagen. Das klingt nach Wendezeit. Beim zweiten spricht
Jemand, der wie Monte Cazazza klingt, über Dinge, die zeitlich 1990ff.
einzuordnen sind. Aber ich kann mich auch täuschen.
Reichlich gewöhnungsbedürftig sind Frigitte Hodenhorst Mundschenk,
mit Klängen untermalte dadaistische Lautspeilereien und Gedichte,
die nach frühen 80ern Computersoundspielereien klingenden Ornament
& Verbrechen, der unmelodisch-wirre Impro-Track des Conny Bauer Quartetts,
der schmerzhafte Kunst-Punk des Demokratischen Konsums, das sehr Freie
Orchester, das den Anspruch mit Disharmonien zu nerven in eine halbwegs
vertretbare Form gießt.
Eine Randerscheinung aber ernsthaft bezaubernd ist der Heinz & Franz-Track
"Immer" - nicht umsonst erinnert die Namensgebung ein kleinwenig
an frühe Kraftwerkalben auch wenn das Stück klingt, als wenn
der TG-Track "Convicing People" auf eine zarte, entrückte
Gitarrenmelodie trifft. Eine echte Perle! Richtiggehend Drone Ambient
kommt von Robert Linke; er nennt es "Musik für den Weltuntergang".
Neben wirklich interessanten Stücken gibt es einige Ausrutscher.
Das unsägliche Velvet Underground-Cover der Knutz Baltz Formation
- erinnert an Frieder Butzmanns fürchterliche "Stille Nacht"
oder die völlig deplatzierte Schreiperformance der "Gehirne".
Mit dem abschließenden Döring-Stück kann ich ebenso wie
mit der anderen Poesie kaum etwas anfangen.
Selbstverständlich ist
die Tonqualität der CDs alles andere als optimal. Kein Wunder, wenn
man bedenkt, dass die Aufnahmen jahrelang auf irgendwelchen ORWO-Tapes
vor sich hin verrotteten. Wer sich aber daran stört, der kann sich
die Zeit sparen, diese Musik zu erforschen. Das wäre in etwa so,
als wenn man alten Grammophon-Platten das Knacksen zum Vorwurf macht.
Es gab auch ein Leben vor dem digitalen Zeitalter und so ist das typische
Tape-Rauschen auch Ausdruck der Authentizität dieser Aufnahmen.
Wie gesagt, betrachtet man
das Ganze eher als historische Sammlung denn als Unterhaltungs-CD geht
das Werk vollkommen in Ordnung. Das Buch
gibt Informationen über Zeit und Umstände des Entstehen: In
diesem Kontext lassen sich manche Stücke erst richtig würdigen.
Alternative Einschätzung
- ein Jahr später
Knapp 50 Songs
und Fragmente aus dem "Magnetbandundergrund" der DDR finden
sich auf diesen beiden CDs. Vieles von dem hier zu Hörenden erinnert
an die "Genialen Dilletanten" aus Westberlin - schräge
Melodien, eigenartig bis eigenwillige Texte in deutscher Sprache, musikalische
Unangepasstheit. Wie es sich für Untergrundmusik gehört sind
die Aufnahmen oftmals klangtechnisch mittelmäßig bis schlecht,
doch das ist nun mal der Zeit und den damals aktuellen Aufnahmetechnik
geschuldet, die zudem eher Low als High End war. Einzig das Stück
von den Freunden der Italienischen Oper ist klanglich völlig daneben,
so dass man gut und gerne darauf hätte verzichten können. Die
Band hätte sicher eine andere, bessere Aufnahme zur Verfügung
gestellt, hätte man sie gefragt. Das ist wirklich schade.
Interessant sind die beiden Tonträger auch für diejenigen, die
sich ein wenig in der Musikszene der End-DDR auskennen, denn bis auf das
wunderbar boshafte, dadaistische Stück "Was Mir Deine Schleuder
Ist Dir Meine Waschmaschine" von Rosa Extra ist hier Unbekanntes
zu hören. Warum allerdings zwei Stücke mit der Beteiligung von
Herrn Trötsch (Frank Tröger) auf der CD sein müssen, die
den Dubrhythmus von "Bakschisch For Burundi" recyclen, bleibt
ein Geheimnis der CD-Zusammensteller.
Neben den "Genialen
Dilletanten" gibt es andere Bezugsgrößen wie den düsteren
Wave der 1980er (z.B. Neun Tage Alt oder Parts Per Millions mit einer
Sängerin, die klingt wie Patty Smith) oder die Politische Musikszene
der BRD wenn Stoffwechsel an Ton Steine Scherben erinnern. Euphontherapie
erinnern mich hingegen an Throbbing Gristle, "Pulling the strings
behind the scenes" Dank Sample an Monte Cazazza. Punkig geht es auch
zu, so bei Grabnoct, da allerdings recht angejazzt und politisch recht
eindeutig.
Völlig eigenständig zeigt sich hingegen der Chemnitzer Frank
Brettschneider, der es mit seiner Band AG Geige auch schon vor der "Wende"
zu einiger Bekanntheit gebracht hat. Die experimentelle Musik mit absurden
Texten ist einfach großartig. Auch Robert Linkes angenehmes Ambientstück
gefällt mir gut.
Das andere
Ende des Spektrums bilden für mich z.B. Sachen wie der Titel von
"Die Gehirne" oder "Der demokratische Konsum" - eine
Art reichlich gestörter Urschreitherapie. Die "Knut Baltz Formation"
steuert ein gruseliges Velvet Underground-Cover, bei das in klingt wie
Frieder Butzmann's "Stille Nacht". "Aufruhr zur Liebe"
zeigen mit einem ordentlichem Virgin Prunes-Cover, dass es auch anders
geht.
Machen wir
uns nichts vor: Ein Genuss ist es tatsächlich nicht, diese beiden
CDs anzuhören. Vieles ist einfach nur anstrengend, manches pseudointellektueller
Schwachsinn - so wie auch en Teil der Diskussion im Buch. Unabhängig
davon ist es einfach interessant, wie die Musiker versucht haben, ihren
eigenen Ausdruck zu finden, fernab aller Gefälligkeit. Als Sammlerstück
und Studienobjekt lohnt sich die Anschaffung aber auf jeden Fall.
Titel CD 1:
1. Der Schwarze Kanal - Spiel mit
2. Magdalene Keibel Combo - Er Hat's Geschafft
3. 3tot - Zaghaft
4. Corp Cruid - 37 Grad Celsius
5. Taymur Streng /Ornament & Verbrechen - Das Sentimentale Ufo
6. Etzel In Mecklenburg - Hütet Die Mütter
7. Schappy - Can Dub
8. Rosa Extra - Was Mir Deine Schleuder Ist Dir Meine Waschmaschine
9. Magdalene Keibel Combo - Immer An Der Wand Lang
10. Norbert Jackschenties / Robert Sakrowski - Nichts Ist Langeweile
11. Tschaka Lebt - Macao(Sie Töten)
12. Gesichter - Sk 8 Gesichter
13. Erweiterte Orgasmus Gruppe - O.T.
14. Happy Straps - Der Tod
15. Klick & Aus - Systeme Rasten Ein
16. Stefan Döring - Volkswiese
17. Neun Tage Alt - Rage
18. Parts Per Millions - Liebe
19. Aponeuron - Jab Gab Hej
20. The Local Moon - Calling Me Home
21. Stoffwechsel - Der Zug
22. Choo Choo Flame - Nein
23. Teurer Denn Je - Jamais Vu
24. Ihr Arschlöcher - Urtramp
25. Ornament & Verbrechen/Bolschewistische Kurkapelle - Keilter Schwaß
Titel CD 2:
1. A.F. Moebius - Böser Traum
2. Stoffwechsel - Fly,Fliege,Fly
3. Kriminelle Tanzkapelle - Klatschmohn
4. Jeremy Clarke / Bert Papenfuß - Eines Toten Mannes Braut
5. Freunde - Der Italienischen Oper Holiday
6. Ur-Tacheles - Nino
7. Grabnoct - Töten Und Fressen
8. Aufruhr Zur Liebe - Sweethome Under White Clouds
9. Pulling The Strings Behind The Scenes - News Night
10. Frigitte Hodenhorst Mundschenk - Koitusbonzen Rotzen
11. Knut Baltz Formation - Die Morgigen Feste
12. Die Euphontherapie - Vernissage
13. Ornament & Verbrechen - When I Am I Am Not
14. A. F. Moebius - Erika
15. Herbst In Peking - Wirbelsäulenkrebs
16. Die Gehirne - Besiedelung Der Ozeane
17. Conny Bauer Quartett - Gamelan II
18. Heinz & Franz - Immer
19. Der Demokratische Konsum - Die Kuh
20. Das Freie Orchester - Gesang Der Jünglinge
21. Zwitschermaschine - Übern Fluß
22. Robert Linke - Musik Zum Weltuntergang
23. Stefan Döring - Musik & Moos
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