Entfernung durch Entfernung
Der subjektiv gefärbte Rückblick auf ein merkwürdiges Erlebnis beim WGT 2007

Die Grufti-Szene gilt gemeinhin als eine der friedlichsten Musik- und Jugendszenen überhaupt. Das WGT oder auch Wave Gotik Treffen ist das größte Festival dieser Szene, in der ich mich nunmehr seit etwas über 15 Jahren bewege. Am Sonntag wurde ich von der Veranstaltung ausgeschlossen und vor die Tür gesetzt. Wie ist es dazu gekommen?

Als Inhaber einer Fotoerlaubnis hatte ich beim Konzert der Superheroines im Fotograben gestanden. Wie üblich, wurden die Knipser nach dem dritten Song aus diesem Raum zwischen Bühne und Publikum entfernt. Die agra-Halle war zu diesem Zeitpunkt sehr gut gefüllt, kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Szenegrößen wie Terminal Choice, ASP und The 69 Eyes bereits gespielt hatten oder dies noch tun wollten. Nun kann man von den Bands halten, was man will - es gibt viele, vor allem junge Fans, die diese sehen wollen. So nahm es auch nicht Wunder, dass in den ersten fünf, sechs Reihen die szenische Jugend wie ein einziger schwarzer Block stand.


Nachdem ich den Fotograben verlassen hatte, versuchte ich einen Weg zu finden, näher an Eva O. und Ihre Gespielinnen heranzukommen, was sich trotz einigen Körpereinsatzes als schwierig herausstellte. Mit der Suche nach Lücken und geschicktem Taktieren gelang es mir, bis zu ebenjenem "schwarzen Block" vorzudringen. Dort ging es weder vorwärts noch rückwärts, vorausgesetzt ich wollte weiterhin ein netter Mensch bleiben, dem maximal ein "Arschloch" hinterher gerufen wird. Ich schob mich dann dank des Einsatzes meiner Größe und meines Gewichtes durch die Reihen. Das versammelte Jungvolk reagierte darauf verärgert und ich wurde ebenfalls geschubst aber das ging mir alles ziemlich weit am Hintern vorbei, da ich dank meiner bereits absolvierten Aufenthalte in der Pogo-Crowd ganz gut klar mit solchen Angriffen komme. Solange keiner zuschlägt oder mir die Brille vom Gesicht reißt, lasse ich solcherart Aktion entspannt an mir abprallen. Durch meinen Erfolg mutig geworden, versuchte ich mir durch weiteren Körpereinsatz Platz zum Tanzen zu verschaffen. Das war dann doch einigen zu viel und auch die Security war aufmerksam auf mich geworden. Zwei Herren kamen auf mich zu - nur die üblichen Gitter trennten uns voneinander. Ich ging ebenfalls ein, zwei Schritte auf die Herren zu, mir schlagartig der Ernstes der Lage bewusst. Ich rechnete mit einem Anschiss und sagte deshalb: "Alles OK, ich benehm mich jetzt." Ich wurde aufgefordert über den Zaun zu kommen und hob darauf hin abwehrend die Hände - alles ohne Aggression: "Nein, ist schon gut, ich bin ruhig, ich benehm mich." Die beiden Herren gingen und ich dachte schon, dass der Vorfall vorbei und ich mal wieder mit einem sprichwörtlichen blauen Auge davongekommen wäre. Keine halbe Minute später standen zwei neue Security-Männer vor mir und sagten, dass ich raus müsse. Natürlich versuchte ich wieder zu beschwichtigen, wurde aber recht schnell an den Oberarmen gepackt und über den Zaun gezogen, wobei ich meinen Rucksack verlor. Was dann folgte, kam mir vor, wie in einem schlechten Film. Mir wurde der Arm auf den Rücken gedreht und ich wurde aus der Halle herausgedrängt. Draußen wurde ich auf den Boden geworfen, wo ich auf dem Rücken zu liegen kam. Zwei Leute drückten mich runter, später spuckte mir noch einer mit hasserfüllten Blick ins Gesicht. Seine lautstark vorgebrachte Begründung: Ich hätte ihm in die Eier gelatscht. Während der ganzen Zeit war ich nicht still gewesen. Ich hatte gerufen: "Ist ja gut" um den Herren verständlich zu machen, dass ich friedlich bleibe, "Du tust mir weh" weil mir der Arm auf den Rücken gedreht wurde und natürlich "Ich hab meinen Rucksack verloren", "ich will meinen Rucksack wiederhaben". Von den anderen Akteuren dieses Schmierentheaters kamen Sprüche wie "Halt's Maul" und härteres, im Einzelnen erinnere ich mich nicht mehr daran. Ging ja alles ziemlich schnell. Als ich auf dem Boden lag, wurden mir meine Bändchen abgeschnitten und einer der Herren, der meiner Erinnerung nach keine der auffälligen Security-Jacken trug, gab mir mehrfach zu verstehen, dass ich die Fresse halten solle, wenn ich mir nicht ein paar einfangen wolle.
Nachdem sich alle Seiten beruhigt hatten, wurde ich am Oberarm festgehalten und zur Polizei "abgeführt". Dort gab es das übliche Programm mit Aufnahme der Personalien und was noch so dazugehört. Ich erinnerte die Umstehenden immer wieder daran, dass mein Rucksack noch in der agra-Halle lag und wieder Erwarten tauchte das gute Stück dann auch tatsächlich wieder auf. Nichts fehlte, alles war noch heil. Nicht ganz unschuldig an dieser positiven Entwicklung dürfte mein Zetern über den Verlust einer Kamera, eines Mobiltelefons und einer Jacke gewesen sein - die Security-Leute bekamen es wohl mit der Angst zu tun, verklagt zu werden und Schadensersatz leisten zu müssen. Mittlerweile war der Chef der Truppen aufgetaucht, ein glatzköpfiger Hüne und lieferte sich mit mir ein Wortduell. Die ganze Aktion war von einem Freund beobachtet wurden, der seinerseits die Security-Leute beschwichtigte in dem Stil: "Ich kenn ihn, der ist eigentlich nicht so" etc. Während der Debatte mit dem Sicherheitsboss tauchte eine junge Frau auf, die ich angeblich geschlagen hatte. Mag sein, dass sie im Gewühle etwas abbekommen hat, bewusst attackiert habe ich sie nicht. Würde ich auch nie tun, weil ich grundsätzlich Frauen nicht schlage. Vielleicht kommt man ja mal in die Situation, in der es um das nackte Überleben geht, wer weiß, wie man da reagiert aber das ist ein Szenario, über das man nicht wirklich nachdenken will…
Egal, wie auch immer. Die junge Frau hatte keinen Ausweis bei sich und sie war seltsamerweise schnell wieder verschwunden. Mir wurde mit einer Anzeige gedroht, worauf ich nur antwortete: "Na dann macht mal!" Dies war wahrscheinlich der Grund dafür, dass mich der Boss als renitent und uneinsichtig einschätzte. In der Zwischenzeit hatte ich einen Freund angerufen, der als Mitarbeiter beim Veranstalter für mich sprechen sollte. Der kam auch recht schnell und hörte sich beide Seiten an. Traurigen Blicks sagte er dann, dass er nichts machen könne. Schließlich müsse er auch glauben, was die Security-Jungs sagen. Naja, dass er nichts machen konnte, nehme ich ihm nicht übel, schließlich ist solch eine Großveranstaltung kein Zuckerschlecken und jemanden, der andere und sich selbst gefährdet - so schien zumindest die Einschätzung der Sicherheitsverantwortlichen über mich auszufallen - nur deswegen auf dem Platz zu lassen, weil man ihn kennt, ist eine heikle Sache. Sei's drum. Ich durfte also in der Begleitung von nicht weniger als drei Männern und einer Frau - zwei mal Security, zweimal Polizei - mein Zelt abbauen gehen. Dabei habe ich mich an einem Hering geschnitten und wurde nicht, wie mancherorts kolportiert, zusammengeschlagen (Schon erstaunlich, wie Gerüchte entstehen!). Aus diesem Grund wurde ich später auch ins Sanizelt gebracht, um die ordentlich blutende Wunde zu versorgen. Dann hielt ich mit meiner Anhängerschar Auszug aus dem Gelände. Die innerliche Entfernung von der Szene fand ihren würdigen Abschluss in der Entfernung vom WGT-Gelände.


Fazit 1 - Die Schwarze Szene oder "Gruftis pogen nicht!":


"Die" Schwarze Szene gibt es nicht mehr. Ganz offensichtlich sind die ästhetischen Präferenzen verschiedener Teilszenen nicht mehr kongruent. Wer sich beim Death-Rock-Konzert über pogende Zuschauer erregt, hat einfach eine völlig andere Sicht aufs Leben als ich. An Orten, an denen ein "friedliches Miteinander" nicht möglich ist - wie soll es funktionieren, wenn in einer dicht gedrängten Menge der eine exzessiv tanzen will und der andere nur einer ihn wenig interessierenden Band gelangweilt oder von mir aus auch fasziniert zuschaut, und sich dabei möglichst nicht vom Platz bewegt, denn er könnte den Auftritt seiner Helden verpassen. Das geht natürlich nicht und so nimmt es nicht Wunder, dass einer weichen muss. Erst waren es "die anderen", die ich unter Einsatz meiner körperlichen Kräfte aber ohne jede böse Absicht entfernt habe, dann war ich es, der entsorgt wurde. Leider.

Fazit 2: Die Security oder "Sport frei"

Prinzipiell funktioniert ein solches Ereignis wie das WGT nicht ohne Security. Es gibt immer wieder Störenfriede oder einfach nur Betrunkene, die "andere und sich selbst gefährden", und die müssen aus eben diesem Grunde zur Ruhe gebracht werden. Dass die Mittel dabei manchmal etwas rauer werden, dafür hat sicher Jeder Verständnis, der mal einen Betrunkenen randalieren gesehen hat. Doch auch hier gilt wie bei der Polizei das, was man die "Verhältnismäßigkeit der Mittel" nennt. Überspitzt heißt das, dass man einen harmlosen Krakeeler nicht einfach erschießen darf. Ich fand persönlich, dass die Security übertrieben hart zur Sache gegangen ist. Als Rechtfertigung dafür dienten ihr unbewiesene Behauptungen und Zeugen, die so schnell wie sie auftauchten auch wieder verschwunden waren. Weder die blonde Frau, noch der Security-Mann, dessen Gemächt ich angeblich traktiert hatte, waren anwesend, als "über mich verhandelt" wurde. Seltsamerweise war kein Einziger der direkt Betroffenen - mal abgesehen von mir - gegen Ende der "Verhandlung" anwesend. Der junge Mann, der mir als Boss der Truppe vorgestellt wurde, ließ sich nicht auf meine Argumentation ein, dass er doch die entsprechenden Mitarbeiter zum Rapport zitieren solle.
Insgesamt konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass da einige ihr Mütchen kühlen wollten und die sich bietende Gelegenheit gern genutzt haben. Möglicherweise waren die Herren chronisch unterbeschäftigt und deshalb frustriert.


Fazit 3: Die Machtfrage oder "Wer regiert das Land?":

In Deutschland, wie anderenorts auch, ist die Polizei das vom Staat dafür ausersehene Instrument im Rahmen der Gesetze und zum "Wohle des Volkes" Ordnung zu schaffen. Da es "das Volk" nicht gibt und die einzelnen Individuen manchmal unterschiedliche Interessen haben, ergeben sich immer wieder Konflikte, in die die Polizei eingreifen muss. So weit so gut. In meinen "Fall" griff die Polizei so gut wie nicht ein, mal abgesehen von der Aufnahme meiner persönlichen Daten. Das finde ich sehr seltsam, da mir doch mehrfach Körperverletzung vorgeworfen wurde. Ist das mittlerweile solch ein Kavaliersdelikt, das der dienstranghöchste Polizist persönlich entscheiden kann, ob es verfolgt wird oder nicht. Wer hat das überhaupt zu entscheiden? Wer darf die Strafen aussprechen und wer entscheidet darüber, was angemessen ist? Der Veranstalter in Form eines nicht ganz unwichtigen Mitarbeiters hat offensichtlich kein Mitspracherecht und die Polizei kein Interesse sich einzumischen - ganz nach dem Prinzip "Die regeln das schon untereinander." Prinzipiell finde ich die Einstellung ja nicht so schlimm, nur wenn zwei so unterschiedliche Sichtweisen der Dinge aufeinanderprallen, sollte die Exekutive nicht daneben stehen und Däumchen drehen.
Kommentar eines sachkundigen Freundes: "Die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) ist wie die einfache vorsätzliche Körperverletzung ein Antragsdelikt (§ 230 StGB). Das heißt, die Strafverfolgungsbehörden schreiten erst mit Stellung eines Strafantrags ein, sofern nicht das besondere öffentliche Interesse durch die Staatsanwaltschaft bejaht wird. Andernfalls wird das Opfer auf den Privatklageweg verwiesen. Da die von dir - angeblich - verletzten Personen entweder beizeiten verschwunden, oder gar nicht erst da waren und somit keiner der Antragsberechtigten einen solchen Antrag gestellt hat, macht die Polizei von sich aus auch nichts. Hat nichts mit Faulheit zu tun - ist halt deutsches Recht.


Fazit 4: Das WGT und ich oder "Das alte Leid":

Ich will an dieser Stelle nicht über die Kommerzialisierung der Schwarzen Szene lamentieren, weil das sinnlos ist. Auch die Entscheidung des Veranstalters Eva O. und ihre Superheroines zwischen "Acts" zu quetschen, die ein völlig anderes Publikum anziehen, muss man nicht bewerten. Dumm gelaufen halt.
Dass ich vom WGT entfernt wurde, ist ärgerlich. Ganz unschuldig war ich nicht daran und deshalb beschwere ich mich weder an dieser noch an anderer Stelle.
Seit langer Zeit darf ich als Boss und quasi einziger Mitarbeiter dieses kleinen Internetfanzines mir den Eintritt für das WGT sparen. Dafür bin ich den Veranstaltern dankbar und ich freue mich jedes Jahr wieder, wenn meine Anfrage nach einer Pressekarte mit dazu gehöriger Fotoerlaubnis positiv beschieden wird. Ich nehme dies nicht als selbstverständlich hin - meines Wissens sind etwa 500(!) Journalisten, schreibende, Radio machende und fotografierende Szeneaktivisten akkreditiert. Ob ich und das debil da dabei sind oder nicht, spielt für die Gesamtdarstellung des WGT in den Medien eigentlich keine Rolle. Ich hoffe, dass ich trotz der ganzen Aktion im nächsten Jahr wieder dabei sein werde. Im "schlimmsten" Fall müsste ich wie jeder andere auch, mir eine Karte kaufen und entscheiden, ob die Bands die ich dafür sehen darf, dieses Geld auch Wert sind. Wenn ich nicht noch nachträglich vom Veranstalter ein allgemeines Verbot ausgesprochen bekomme, sollte dem eigentlich nichts im Wege stehen.

 

Schlusswort:

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen entschuldigen, die ich - um es noch einmal ausdrücklich zu betonen, ohne böse Absicht - körperlich oder seelisch misshandelt habe. In diese Entschuldigung sind ausdrücklich auch alle Security-Mitarbeiter eingeschlossen. Sorry, ich versuch mich beim nächsten Mal etwas mehr zusammenzureißen.
Ganz besonderen Dank möchte ich Major sagen. Du warst eine echte Unterstützung. Vielleicht kann ich ja auch mal was Sinnvolles für Dich tun. Mit ein, zwei Bier ausgeben wäre Dein Einsatz definitiv "unterbezahlt".
Danke auch an Corn. Mach Dir keinen Kopf, Du konntest nicht viel tun. Ich hab mich nicht normgerecht verhalten und das wurde halt sanktioniert. Ich werde deswegen nicht in Tränen ausbrechen. Such as life!
Danke an Hendrik und Claudia für den Wein und die moralische Unterstützung.
Danke auch an die Security-Männer und PolizistInnen, die mir beim Abbau des Zeltes beigestanden und mich aus dem Gelände begleitet haben. Ihr wart zuvorkommend und sehr freundlich und ich weiß korrektes Verhalten zu schätzen.
Danke auch an die Sanitäter, die mich behandelt haben. Keine Angst, Altgruftis sind hart im Nehmen!

 

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